In seinen Buch »Of Two Minds« (»Von zwei Gemütern«) beschreibt der Psychiater Dr. Frederic Schiffer, dass alle Menschen scheinbar zwei Gemüter besitzen: ein »erwachsenes« Gemüt und ein unreifes Gemüt.
Er hat dies über viele Jahre hinweg in seinen Patienten beobachtet. Alle besaßen eine Persönlichkeit, die Verständnis und ein tiefgehendes Wissen ausdrückte, und eine Persönlichkeit, die voller Angst, Unsicherheit, Zweifel und ähnlichem war. Beide Gemüter schienen voll ausgebildete Persönlichkeiten zu sein, die abwechselnd »die Führung« übernahmen.
Andere Wissenschaftler, vor allem aber auch spirituelle Meister, haben dieses Phänomen über die Jahrhunderte hinweg beobachtet und beschrieben. So nannte der Mystiker und Philosoph G.I. Gurdjieff den negativen Teil im Menschen »Organ Kundabuffer«. Für ihn handelte es sich dabei nicht um ein physisch manifestiertes Organ, sondern um einen mentalen und psychologischen Zustand, der beeinflusst, wie ein Mensch die Welt wahrnimmt: »durch einen Spiegel ein dunkles Bild« (1. Kor 13:12). Konkret bedeutete das für ihn Egoismus und Negativität, Stolz, Eitelkeit, Betrug, Arroganz, Angeberei und noch Schlimmeres.
Eckard Tolle nennt diese Seite der Menschen den »pain body« (Schmer z Körper) – ein Zustand des Schmerzes (körperlich, seelisch und emotional), der durch Glauben an Negativität, Leid, Krankheit und Schmerz ausgelöst wird. Laut Eckard Tolle kann dieser Zustand zu einer Sucht werden, auch dadurch bedingt, dass viele Menschen sich kein anderes Leben vorstellen können. Sowohl für Tolle als auch für Gurdjieff besteht der erste Schritt darin, sich des falschen Gemüts oder Zustands bewusst zu werden. Gurdjieff, der eine quasi-religiöse Schule gründete, entwickelte ein System aus Meditation, Lesen, Tanz und anderen Elementen, um seine Schüler vom Einfluss des »Organ Kundabuffer« zu befreien und in einen höheren Bewusstseins-Zustand zu führen. Tolle ist ein Zeitgenosse, dessen Bücher Bestseller sind.
Das Erkennen des fehlerhaften und falschen Seins ist notwendig, um einen anderen Weg zu finden und zu erkennen, dass dieser Zustand in Wirklichkeit keine Macht besitzt.
Mary Baker Eddy, Gründerin der Christlichen Wissenschaft und dieser Zeitschrift, nannte diesen Zustand des Leids das »sterbliche Gemüt«. Das sterbliche Gemüt kann sich physisch als Krankheitszustand manifestieren oder aber auch als eine Neigung zur Sünde – wobei Sünde im weiteren Sinn zu verstehen ist. So schreibt sie: »Die Weisheit des Menschen findet keine Befriedigung in der Sünde, weil Gott die Sünde zum Leiden verurteilt hat. ... Der Trinker meint den Rausch zu genießen und man kann den Alkoholiker nicht von seiner Torheit abbringen, bis seine physische Auffassung von Genuss einer höheren Auffassung weicht. Dann wendet er sich vom Becher ab wie ein erschreckter Träumer, der aus einem Alpdruck erwacht, den die Leiden der verzerrten Auffassung verursachen. Ein Mensch, der gern Unrecht tut – dem dies Vergnügen bereitet und der es nur aus Furcht vor den Folgen unterlässt –, ist weder ein gemäßigter noch ein in seiner Religion zuverlässiger Mensch.« (Mary Baker Eddy, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, Seite 322:16).
Auch hier wird deutlich, dass das Erkennen des fehlerhaften und falschen Seins notwendig ist, um einen anderen Weg zu finden und zu erkennen, dass dieser Zustand in Wirklichkeit keine Macht besitzt. Mary Baker Eddy geht jedoch weiter. Sie bietet nicht nur eine Lösung durch richtiges Gebet an, sondern versichert ihren Lesern und Schülern, dass es in Wirklichkeit nur einen Seins-Zustand gibt: den Menschen als vollkommene Widerspiegelung Gottes.
Dass dieser Weg nicht ganz einfach ist, dafür gibt es tagtäglich Beispiele. So passiert es vielen Menschen, dass sie für einen Moment – ausgelöst zum Beispiel durch eine unangenehme Situation oder schlechte Neuigkeiten – »nicht sie selbst sind«. Sie »wachen auf« und merken, dass sie unangemessen reagieren, in Panik verfallen oder irgendwie negativ denken. Wenn es dann mit Hilfe von Gebet gelingt, einen anderen Gemütszustand zu erreichen, kann die gleiche Situation ganz anders aussehen. Oftmals verschwindet das scheinbar Negative und der Mensch ist in der Lage, das Gute zu sehen und zu erleben. So erinnere ich mich an einen Beitrag auf der Jahresversammlung in Berlin. Eine Frau berichtete, dass sie einen Stand mit Materialien der Christlichen Wissenschaft auf einer Messe betreute. Direkt vor ihr baute jemand ein Sofa auf, das die Sicht auf den Stand erschwerte. Der erste Gedanke hätte sein können, dass alles verloren ist, oder man vielleicht die Mitarbeiter am anderen Stand davon überzeugen sollte, das Sofa woanders hinzustellen, sich also auf menschlicher Ebene einzumischen. Stattdessen fing sie an zu beten. Wenige Zeit später wurde das Sofa so umgestellt, dass es einen wunderbaren Blick auf den Stand ermöglichte – die Situation hatte sich zum Besseren gewendet und es kam sogar zu einer freundlichen Zusammenarbeit. In anderen Fällen ist die Lösung vielleicht nicht ganz so schnell, aber Gebet wirkt sich immer positiv auf eine Situation aus.
Alle drei oben genannten Autoren (und viele andere) betonen, dass dies eine Lebensaufgabe ist, nicht etwas, das man »mal macht«. Mary Baker Eddy spricht von täglicher Wachsamkeit. Es mag uns oft so erscheinen, als ob wir diese zwei Gemüter haben – aber wenn wir hartnäckig sind, kommt immer das wahre Gemüt ans Licht.