Einer der größten Fehler der Sterblichen ist die Gewohnheit des Verurteilens; dies verzögert bedeutend den geistigen Fortschritt der Menschheit, denn es verhindert die ehrliche und rechtmäßige Anwendung von dem schon Erreichten und macht es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, mehr zu gewinnen.
„Richtet nicht nach dem Ansehen, sondern richtet ein recht Gericht" war der weise Rat des größten Lehrers der Welt.
Die einfache Lebensregel des Meisters: „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet," ist durchaus nicht eine nichtssagende Vorschrift. Als er gelegentlich einmal von sich selber sprach, sagte er: „ Ich richte niemand." Er, der am meisten zum Richten berechtigt war, sah am deutlichsten ein, daß des Menschen Aufgabe nicht im Richten bestand, sondern im Lehren und Demonstrieren der Wahrheit. Die Wahrheit ist immer ein gerechter Richter, ein unfehlbarer Führer und eine wirksame Hilfe.
Zur Neigung zum Urteilen kommt oft noch das Bemühen, eine Richtschnur für andere aufstellen zu wollen, und nirgends ist dies so offenbar, als wie in religiösen Angelegenheiten. Der Mensch ist gewöhnlich willig, seinen Nachbar sein Geschäft auf seine eigne Weise ausführen zu lassen, aber nicht immer willig, daß dieser Nachbar Gott verehrt, wie er es für richtig hält. Darnach hat der Mensch in dem, was für ihn am wichtigsten ist, und wo er die größte Freiheit haben sollte, augenscheinlich die geringste.
Oft gehören gerade diejenigen, die größere Freiheit für sich selber gewonnen haben, zu den ersten, andern einen Maßstab geben zu wollen und sind am strengsten im Urteil über den, der sich weigert, oder das zu tun unterlässt, was er ihrer Meinung nach tun sollte. Sie schieben persönliche Meinung an Stelle von göttlicher Führung und erklären, daß derjenige, dessen Handlung ihrem Begriff nach nicht richtig ist, vom Irrtum beeinflusst wird.
Die Gewohnheit des Verurteilens schadet dem Menschen, weil es ihm das von Gott gegebene Recht nimmt, für sich selber die Wahrheit oder Falschheit seiner Überzeugungen zu prüfen. Die sich widerstreitenden Ansichten anderer über das, was er tun und lassen sollte, dienen dazu, die Gedanken zu verwirren und das klare Urteil zu verdunkeln. Wenn er sich bemüht, so zu handeln, wie andere ihn angewiesen haben, lernt er häufig durch diese Erfahrung, daß er sich nicht immer auf persönliche Meinungen verlassen kann und kommt vielleicht nach wiederholtem Misslingen in Versuchung, es aufzugeben, während, wenn er sich an Gott um Hilfe wendet, er immer den rechten Weg findet. Wäre er von vornherein durch sein eigenes Rechtsgefühl geleitet worden, so würde er vielem Leiden entgangen sein, denn selbst, wenn er in seinen ersten Versuchen gefehlt hätte, würde er aus diesem Mißerfolg gelernt haben, Nutzen zu ziehen. Dagegen gewinnt er nichts, wenn er von den Meinungen anderer beeinflusst ist, sondern erfährt nur, wie töricht der Versuch ist, vom Standpunkte eines anderen aus arbeiten zu wollen.
Es gehört moralischer Mut dazu das zu tun, was man nach aufrichtiger Prüfung für weise und ratsam hält. Der Sterbliche, der aus Furcht vor der Kritik anderer und gegen seinen eigenen Rechtssinn gehandelt und gefehlt hat, kann andere nicht für sein Mißlingen verantwortlich machen, denn er sollte den Mut seiner Überzeugung gehabt haben und das gewagt haben, was er für richtig hält. Jedoch sind diejenigen, die ihn dazu veranlaßten nicht schuldlos; denn hätten sie das Urteilen unterlassen, so hätten sie ihn nicht gegen seine Überzeugung beeinflußt. Von der Bürde der Gedanken und Ratschläge anderer befreit, würde es ihm offen stehen, nach seiner eigenen Weise zu arbeiten. Findet er, daß er im Recht war, ist es gut, erkennt er dagegen einen begangenen Fehler, so kann diese Erfahrung ihm nur nützen und wird er die dadurch erhaltene Belehrung zu schätzen wissen. Er wird jedenfalls größere Freiheit durch die Tatsache gewinnen, daß er seine eigene Überzeugung praktisch angewandt hat, anstatt versucht zu haben, nach der Anschauungsweise eines andem zu handeln.
Der Mensch muß nicht nur glauben, daß er recht hat, sondern, bevor er im stande, ist, andern in ihrem Tun und Lassen richtig zu raten, muß er durch Demonstrationen das Richtige seiner Anschauung bewiesen haben. Und wenn er dies getan hat, wird er meistens wenig Neigung zeigen, andere zu verurteilen. Menschliche Meinungen sind weit davon entfernt, als richtig demonstriert werden zu können. Die Person, die heute so fest von der Richtigkeit ihrer Anschauung überzeugt ist, mag schon morgen einsehen, daß sie gänzlich falsch war.
Auf die Frage: „Kann denn niemand demonstrieren (praktisch beweisen), daß er im Recht ist?" Antworten wir, daß es wohl möglich ist, die Wahrheit zu demonstrieren, aber daß es unmöglich ist, genau die Richtung angeben zu können, die einer unserer Mitmenschen verfolgen muß. Es ist augenscheinlich, daß wir alle Fehler machen, und wenn nun ein Mensch in der Lösung seiner eigenen Probleme Fehler begeht, wie unweise ist es dann, anderen raten zu wollen, was sie tun und lassen sollten.
Wie wenig kennt man die Beweggründe, die einen anderen veranlaßt haben mögen, die Richtung einzuschlagen, die er verfolgt? Wer ist weise genug, sagen zu können, daß ein anderer nicht gerade das getan hat, was unter seinen Umständen am besten war? Wer weiß, daß eine andere Handlungsweise für ihn besser gewesen wäre? Wer kann von sich selber behaupten, daß er in derselben Stellung, unter denselben Bedingungen besser oder sogar so gut gehandelt hätte?
Wenn wir nur das ernstliche Verlangen im Herzen eines andern verstehen könnten, oder wüßten, wie schwer die zu tragende Bürde ist, wie groß die zu bekämpfenden Hindernisse sind, so würde vielleicht die Neigung zum Urteilen oder gar zum Verurteilen und Verdammen in herzliches Mitgefühl und Liebe verwandelt werden. Ja, wenn wir nur viele Dinge wüßten, wie viel liebevoller und hilfsbereiter würden wir sein und die Bürde eines andern mit Freuden tragen helfen, somit das Gesetz der göttlichen Liebe erfüllend.
Wer hat nicht den Schmerz unverdienten Tadels und falschen Urteils empfunden? Wer hat nicht die Notwendigkeit einer helfenden Hand erkannt und sich darnach gesehnt, ein ermutigendes Wort zu hören? Haben wir nicht alle das Verlangen, das Beste zu tun? Wer hat nicht ein höheres Ideal vor Augen gehabt als das, was er bis jetzt erreicht hat? Wer hat nicht mit Paulus sagen können: „Das Gute, das ich will, das thue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das thue ich."
Andere haben Eingebungen so edel wie unsere, streben so ernsthaft wie wir, bringen ebenso große Opfer und tragen ebenso schwere Lasten. Andere wünschen aufrichtig nur von göttlicher Weisheit geleitet zu werden und versuchen ebenso getreulich, die Wahrheit zu erreichen! Was berechtigt uns denn dazu, unsern Nächsten zu verdammen oder zu verurteilen?
Das einzig wirkende Mittel für diesen Irrtum ist göttliche Liebe. Menschliche Liebe ist nicht genügend, denn sie ist nicht unparteiisch, sondern entschuldigt bei dem einen, was sie bei andern kritisiert. Die Liebe, die von Gott kommt, ist treu und gerecht; sie ist ohne Ansehen der Person weise in ihren Hilfeleistungen und urteilt nicht. Wenn die Gelegenheit es fordern sollte, und es wäre grundlos zu glauben, daß sich diese Gelegenheit nicht einmal bieten wird, wo der im Irrtum Befangene sich willig raten ließe, so weiß die wahre Liebe ein Wort der Warnung und Ermahnung zu finden, indem sie das Weitere dem Nächsten überläßt und ihm frei stellt, sein Heil auf seine eigene Weise auszuarbeiten.
Was würde einem vom rechten Wege Irrenden am meisten helfen? Das Lieben oder Verurteilen? Es ist wahr, daß der Mensch ernten muß was er gesäet hat, aber kein Sterblicher sollte, selbst in Gedanken, sich anmaßen, seinen Mitmenschen zu verurteilen. Alle Dinge sind in Gottes Hand, und sollte nicht Er, der „aller Welt Richter" ist, das Rechte tun?