Als ich nach meiner Meinung über Alter gefragt wurde, fielen mir zuerst Sätze ein wie diese: „Alter schützt vor Torheit nicht“ oder „das richtige Alter“ um Sprechen zu lernen, in die Schule zu gehen, von zu Hause auszuziehen. Oder auch der Satz: „Er ist zur Unzeit gestorben.“ Aber wollte ich mich mit diesen menschlichen Urteilen über Alter befassen? Mary Baker Eddy schreibt in ihrem Buch Wissenschaft und Gesundheit: „Es ist das moralische Recht des Menschen, ein ungerechtes Urteil aufzuheben, ein Urteil, das niemals durch göttliche Autorität verhängt wurde.“ (S. 381) Ich muss also nur Urteile über Alter berücksichtigen, die durch göttliche Autorität verhängt wurden. Hat Gott irgendwelche Urteile über Alter? Nein, Gott ist unendlich, ohne Anfang und ohne Ende. Er kennt kein Alter, Er ist ohne Anfang und Ende, Er ist unendlich, zeitlos. Und der Mensch als Sein Bild, Seine Idee, bringt diese Zeitlosigkeit zum Ausdruck.
Wollte ich Leben von einem begrenzten menschlichen Denken aus sehen oder mich auf die Stufe des unbegrenzten geistigen Gemüts begeben, das den Menschen in jedem Alter, an jedem Tag und in jeder Stunde mit unendlicher Vielfalt versorgt, aus der wir wie aus einer unerschöpflichen Quelle immer neu schöpfen können? Durch mein Studium der Christlichen Wissenschaft hatte ich gelernt, dass das wahre Sein des Menschen durch das geistige Gemüt regiert wird.
Dabei fiel mir ein, dass Jesus gesagt hatte, wir müssen werden wie die Kinder. Warum wie Kinder? Weil Kinder bereitwillig das Alte für das Neue aufgeben. Kinder lernen jeden Tag etwas Neues. Wenn sie laufen gelernt haben, wollen sie nicht mehr krabbeln. Wenn sie gelernt haben, ein Wort richtig auszusprechen, vergessen sie das falsche Wort, das sie vorher benutzt haben. Und wenn sie gelernt haben zu lesen, verlieren sie diese Fähigkeit nicht mehr, sondern nutzen sie, um alles zu lesen, was ihnen begegnet. Und als kinder Gottes besitzen wir ständig diese Fähigkeiten. Wir können jederzeit Neues lernen, anwenden und offen und wissbegierig sein.
Dann sind Neuanfänge in jedem Alter möglich. Das Leben meines Vaters ist für mich ein eindrucksvolles Beispiel. Als ich mich mit ihm über das Thema Alter unterhielt, stellte ich ihm die Frage: „Hattest du das Gefühl, für irgendetwas zu jung gewesen zu sein?“ Er meinte, vielleicht war er zu jung, als er Soldat wurde. Er war mit 17 Soldat bei der Wehrmacht geworden. Er wurde im Krieg achtmal verwundet. Und er überlebte, weil er durch die Christliche Wissenschaft gelernt hatte, sich auf Gottes Schutz zu verlassen, und weil er im richtigen Moment auf die Botschaften Gottes hörte, wie „Leg dich nicht hin!“ Dadurch entging er einer tödlichen Verwundung.
Weil er auch in dieser schweren Zeit daran festhielt, dass alle Menschen Gottes Kinder sind und gute Eigenschaften zum Ausdruck bringen, begegnete er immer wieder wunderbaren Menschen. Als er in Stralsund schwerverletzt im Lazarett lag, kam der russische Kommandant und fragte: „Ein Lazarett.“ Der Kommandant entgegnete: „Ich nichts kennen Lazarett, ich nur kennen Krankenhaus.“ Alle Soldaten mussten ihre Dienstgrade abgeben und wurden wie verletzte Zivilpersonen behandelt. Als sie fähig waren, das Krankenhaus zu verlassen, wurde keiner gefragt: „Wo kommen Sie her?“ Sondern: „Wo wollen Sie hin?“
Keiner wurde in die russische Gefangenschaft geschickt und keiner zurück in den Osten. Im Krankenhaus lernte mein Vater meine Mutter kennen und damit fing sein neues Leben als Freund, Ehemann und Vater an. Er sagt, er führt ein geschenktes Leben, weil er trotz allen schweren Verwundungen mit Gottes Hilfe den Krieg überlebt hat.
Als der Krieg aus war, hatte er noch keine andere Ausbildung und suchte Arbeit. Er wollte Förster werden, aber mit einem steifen Bein war er nicht geeignet dafür. Er wollte Buchhändler werden, aber alles lag in Schutt und Asche und keiner wusste, wie lange der Wiederaufbau dauern würde. Eines Tages kam er von seiner Krankengymnastik nach Hause und las an der Pädagogischen Hochschule ein Schild: „Wiedereröffnung. Der Kurs zur Lehrerausbildung hat begonnen.“ Mitten in der Nacht wachte er auf und dachte:, Ja, das ist es! Ich kann doch Lehrer werden., Und das wurde er. Sein Bein konnte er mit Hilfe von Krankengymnastik, Wandern, Radfahren und nicht zuletzt durch sein wachsendes Verständnis über den gesunden, harmonischen und Vollkommenen Menschen als Widerspiegelung Gottes, das er durch die Christliche Wissenschaft gewann und immer weiter vertiefte, bald wieder wunderbar bewegen und er rennt heute noch schneller nach der Straßenbahn als ich.
Hat Gott irgendwelche Urteile über Alter? Nein, Gott ist unendlich, ohne Anfang und ohne Ende. Er kennt kein Alter, Er ist unendlich, Zeitlos. Und der Mensch als Sein Bild, Seine Idee bringt diese Zeitlosigkeit Zum Ausdruck.
Als Lehrer konnte er ständig Neues hinzulernen. Er nahm an Sportkursen teil, um Sportrat zu werden. Er nahm an Psychologiekursen teil, um Schulberater zu werden. Und da er in der Schule kein Englisch gelernt hatte, sich aber für die Sprache interessierte, und wohl auch um Mary Baker Eddys Schriften in der Originalsprache lesen zu können und auch um das Amt des Lesers in der Kirche annehmen zu können, begann er mit 30 Jahren Englisch zu Lernen. Zunächst privat und dann studierte er es an der Uni.
Später bat er darum, in einem Modellversuch schwachen Schülern Englischunterricht geben zu dürfen. Dieser Versuch wurde genehmigt und als Englisch in Bayern an der Hauptschule als Unterrichtsfach eingeführt wurde, war er über Nacht zum Experten geworden.
Erwurde von einem Englischbuchverlag gebeten, eine Unterrichtsreihe für das Fernsehen zu erarbeiten und bei der Aufzeichnung mitzuarbeiten. Von einem Verlag wurde er zu Vorträgen in ganz Bayern geschickt, um Lehrern zu zeigen, wie man Englisch unterrichten kann. Wieder hatte er die Möglichkeit, etwas Neues zu beginnen.
Durch seinen Glauben hatte mein Vater gelernt, dass Menschen, die weitergehen, nicht verloren gehen. Gott kennt kein Sterben, denn Gott ist Leben, und der geliebte Mensch lebt in einer anderen Form weiter.
Er setzte sich immer für Demokratie und Menschlichkeit ein und war viele Jahre im Personalrat der Volksschullehrer tätig.
Während seiner langen Lehrertätigkeit, fehlte er nur einmal aus Krankheitsgründen: Meine kleine Schwester hatte Scharlach und die Schulbehörde wies ihn an, entweder Antibiotika zu nehmen oder drei Tage zu Hause zu bleiben. Er ließ alles stehen und liegen und blieb drei Tage zu Hause.
Bevor er in Pension ging, fuhr er vier Wochen zu einer Kur, um festzustellen, ob er ohne Schule leben kann. Er konnte. Erst nach drei Wochen fiel ihm wieder ein, dass es auch noch so etwas wie Schule gab.
Als er kurz darauf in Pension ging, dachten wir, jetzt hätte er vielleicht mehr Zeit für die Familie, aber stattdessen sahen wir ihn noch weniger als Vorher. Endlich konnte er ehrenamtlich im Verein der Lebenshilfe arbeiten, Mitglied des Beirates der Werkstätte werden, die meine Schwester besuchte. Und der Lehrer-und Schüleraustausch der Stadt München meinte, jetzt wo er wieder mehr Zeit hätte, könne er doch Schülergruppen nach Breslau begleiten, Stadtrundgänge durch München machen und Gruppen durch das ehemalige Konzentrationslager in Dachau führen. Wobei er nie vergisst, den Gruppen zu zeigen, dass Dachau auch Schönes zu bieten hat, z. B. ein Schlosspark und eine hübsche Altstadt.
Als er 70 war, ging meine Mutter weiter, und wir dachten: „Wie soll er das schaffen?“ Er konnte nicht einmal einen Dosenöffner bedienen, wusste nicht, was in den Schränken lag, und durfte vorher nie im Garten arbeiten. Außerdem war er nicht allein, sondern meine behinderte Schwester und mein Neffe, der noch die Schule besuchte, lebten bei ihm. In dieser Zeit traf er einen kollegen, der zu ihm sagte: „Hast du eigentlich schon einmal darüber nachgedacht, dass ein Verlust auch neue Möglichkeiten eröffnen kann?“
Durch seinen Glauben hatte mein Vater gelernt, dass Menschen, die weitergehen, nicht verloren gehen. Gott kennt kein Sterben, denn Gott ist Leben, und der geliebte Mensch lebt in einer anderen Form weiter. Die Liebe und die Freude, die wir gemeinsam erlebt haben, bleiben erhalten. So nahm er die neue Chance wahr, lernte sein Haus kennen, lernte Kochen und lernte die Gartenarbeit zu schätzen und zu lieben.
„lch wusste gar nicht, wie viel Spaß Gartenarbeit machen kann“, sagt er heute und freut sich über die ersten Schneeglöckchen und die gelben Winterlinge, im Garten zu blühen.
Vor zwei Jahren wurde er als Zeitzeuge des Dritten Reiches entdeckt und Schulen fingen an, ihn einzuladen, um über seine Zeit als Soldat der Wehrmacht zu sprechen. Die Gespräche mit Schülern bereichern sein Leben und wieder hat er eine neue Aufgabe gefunden.
Die vielen Gäste, die immer wieder zu Besuch kommen, halten ihn jung, und um die Wäsche leichter zu bewältigen, hat er sich letztes Jahr (mit 82) auf der Messe eine neue Bügelmaschine gekauft, weil damit das Bügeln so viel Freude macht.
Mary Baker Eddy schreibt in Wissenschaft und Gesundheit auf Seite 452: „Wenn du aus dem Alten herauswächst, solltest du dich nicht fürchten das Neue anzuziehen.“ Dies hat mein Vater mir durch sein Leben gezeigt, so dass auch ich mich nach langen Jahren der Arbeit mit Kindern neu orientieren konnte. Ich nahm Klassenunterricht, wurde Praktikerin, arbeite in der Kirche aktiv mit und kaufte mir vor zwei Jahren meinen ersten Computer, durch den ich dank der Experten in meiner Familie und dank meiner Wissbegierde ständig etwas dazulerne. Mein Mann fing mit 69 Jahren an, mit unserer Tochter und ihrem Mann eine Disco zu besuchen. Er ist dort ein Star und die Jugendlichen lieben ihn, weil sie ihm wie einem Großvater aus ihrem Leben erzählen können. Meine Kinder konnten so früh sprechen, dass ich nie sagen konnte, wann der richtige Zeitpunkt dafür ist. Mein Sohn rechnete im Zahlenraum bis 1000, bevor er in die Schule kam, lernte lange vor mir mit dem computer umzugehen und ist mit 19 Jahren ans andere Ende von Deutschland gezogen, um mit einer Freundin zusammenzuleben und dort seine Schule zu beenden. Jetzt macht er gerade eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker, und das bleibt sicher nicht das Einzige, was er in seinem Leben lernt. Dank der geistigen Grundlagen, die er in der Sonntagsschule der Christlichen Wissenschaft gelernt hat, kommt er gut zurecht. Und weil ich mir bewusst war, dass Gottes Liebe ihn führt und leitet und schützt, wo immer er sich befindet, konnte ich ihn gehen lassen.
Im göttlichen Gemüt sind Entwicklungen nicht einem bestimmten Alter zugeschrieben, sondern den wunderbaren Fähigkeiten, die Gott den Menschen gegeben hat, und wir können uns daran freuen, immer neue Entfaltungsmöglichkeiten in uns und anderen zu entdecken.
Mein Vater lebt ein geschenktes Leben und ist dankbar für jeden Tag, der ihm neue Aufgaben bereitet. Wir alle können ein geschenktes Leben führen, ein von Gott geschenktes Leben, in dem wir jeden Tag damit verbringen, die göttlichen Eigenschaften, die wir widerspiegeln, mit voller kraft zum Ausdruck zu bringen.
Von meinem Vater habe ich gelernt, jeden Tag so zu leben, dass ich morgen gehen kann, und immer zu wissen: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“ (Jesaja 40)
