Im 3. Kapitel der Apostelgeschichte lesen wir in der Schilderung einer der beachtenswertesten Begebenheiten der ersten Zeit der Apostel, daß ein Mann, der von Geburt an lahm war, sich täglich tragen und „vor des Tempels Tür, die da heißt, die schöne'”, setzen ließ, „daß er bettelte das Almosen von denen, die in den Tempel gingen”. Als Petrus und Johannes eines Tages um „die Stunde, da man pflegte zu beten”, in den Tempel gingen, bat sie dieser vor der schönen Tür Liegende um ein Almosen, worauf Petrus zu ihm sagte: „Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: im Namen Jesu Christi von Nazareth stehe auf und wandle!” Und er „sprang auf”, wie wir lesen, „konnte gehen und stehen und ging mit ihnen in den Tempel, wandelte und sprang und lobte Gott”. Und alle, die um ihn versammelt waren, „kannten ihn auch, daß er’s war, der um das Almosen gesessen hatte vor der schönen Tür des Tempels; und sie wurden voll Wunderns und Entsetzens über das, was ihm widerfahren war”.
Diese schöne Tür ist in der biblischen Geschichte nicht näher beschrieben; aber in der Mauer an der Ostseite des Tempelplatzes zu Jerusalem kann man nahe der berühmten, zur Zeit Konstantins erbauten goldenen Tür noch zwei mächtige, jetzt als Stützpfeiler dienende Tragsäulen sehen, die offenbar die Überreste eines uralten Torwegs sind. Die Überlieferung bezeichnet sie als Trümmer der in der Apostelgeschichte erwähnten „schönen Tür des Tempels”, die wahrscheinlich in den prächtigen, unter dem Namen Halle Salomos bekannten Säulengang führte. Nach Josephus hatte der Tempel „neun mit Gold und Silber beschlagene Türen; aber außerhalb des Tempels befand sich eine Tür aus korinthischem Erz, die die nur mit Gold oder Silber beschlagenen an Pracht weit übertraf. Die anderen Türen waren alle gleich groß; aber die an der Ostseite, gegenüber der Tür des heiligen Hauses angebrachte korinthische Tür war viel größer. Dies war sehr wahrscheinlich die Tür, die, die schöne' heißt, weil sie sich an der leicht zugänglichen Außenseite des Tempels befand und offenbar die kostbarste war”.
Den Leuten unserer Zeit liegt weniger an dem eigentlichen Altertumswert dieser der Vergangenheit angehörenden, einst „die schöne” genannten, altertümlichen Tür als an ihrer Verknüpfung mit der Heilarbeit der Apostel und an der geistigen Schönheit, die sie versinnbildlichen soll. In dieser Hinsicht wird die schöne Tür eine lebendige Wirklichkeit bleiben, auch wenn einst die in der Überlieferung fortbestehenden Säulen auf dem Tempelplatze zu Jerusalem längst verwittert sind, und der Ort, wo sie jetzt stehen, unter den Trümmern dahinstürmender Jahrhunderte verborgen ist. Denn sie ist eines der unauslöschlichen Merkmale, die den Fortschritt der Wissenschaft des Heilens bezeichnen, die Jesus und seine ersten Nachfolger lehrten und bewiesen. Dennoch dachte dieser Mann, der zum erstenmal im Leben „gehen und stehen konnte”, nicht an den Glanz des im Nachmittagssonnenschein schimmernden korinthischen Erzes, noch an die Anmut klassischer Baukunst, als er unter dem Volke in der Halle Salomos umherwandelte. Er dachte an eine unsagbar schönere Tür, an die unvergleichliche Tür geistigen Heilens, die in den „nicht mit Händen gemachten” Tempel führt, worin man den vollkommenen Menschen im Bild und Gleichnis Gottes widergespiegelt sieht. Als das Licht aus diesem Tempel verherrlichten Seins in sein Bewußtsein strömte, schwanden alle Annahmen der Erblichkeit, der Lähmung und der Begrenzung dahin, und „alsobald”, steht geschrieben, „standen seine Schenkel und Knöchel fest”; denn Stärke gehört immer dem Menschen, der vollkommenen, geistigen Idee Gottes. Diesen freudigen Augenblick sofortiger Heilung erklärt Mrs. Eddy im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 14) mit folgenden Worten: „Werde dir einen einzigen Augenblick bewußt, daß Leben und Intelligenz rein geistig sind—weder in noch von der Materie—, und der Körper wird keine Klagen äußern. Wenn du an einer Annahme von Krankheit leidest, wirst du entdecken, daß du augenblicks gesund bist. Leid wird in Freude verwandelt, wenn der Körper von geistigem Leben, von geistiger Wahrheit und Liebe beherrscht wird”.
Um die „Stunde, da man pflegt zu beten”, die Stunde geistiger Gemeinschaft mit der göttlichen Allgegenwart, kommt dieser Augenblick geistigen Bewußtseins mit seinem Seelenfrieden und seiner leiblichen Heilung. Als Petrus und Johannes zum Tempel kamen, waren sie infolge der Pfingstsegnungen, die sie kurz vorher empfangen hatten, von dem Geiste des Gebets und der Lobpreisung erfüllt. Ihre weltlichen Güter hatten sie aber schon mit anderen geteilt; es blieb ihnen nur eines noch übrig, das sie jenem, der an der schönen Tür so mitleiderregend um Almosen bettelte, geben konnten. Hatte er Glauben genug, um danach zu greifen? Nun sagte Petrus: „Sieh uns an!”, und das Verlangen nach himmlischen Gütern muß dem nach oben gerichteten Denken gekommen sein; denn er ergriff die ihm entgegengestreckte Hand, die ihn aus seinem hoffnungslosen Zustande herausheben wollte, und trat mit den Aposteln durch die schöne Tür der Heilung in den Tempel ein.
Die von Mrs. Eddy in Wissenschaft und Gesundheit (S. 595) gegebene geistige Bedeutung des Wortes „Tempel” lautet: „Leib; die Idee des Lebens, der Substanz und Intelligenz; der Bau der Wahrheit; der Schrein der Liebe”. Jeder zu diesem Verständnis von „Tempel” führende Zugang ist mit einer Schönheit geschmückt, der weder schimmerndes Erz noch Marmorsäulen gleichkommen. In einem Gedicht von unübertroffener Anmut hat James Russell Lowell die schöne Tür in einer frommen Sage verkörpert. Diese schildert, wie ein Ritter nach lebenslangem Suchen nach einem zu allen Zeiten besprochenen Schatz—nach dem Kelch, woraus der Meister beim letzten Abendmahl mit seinen Jüngern trank,—verarmt zurückkehrte und an der eigenen Schwelle den heilenden Christus fand, während er seine braune Brotkruste und eine Schale Wasser mit einem Aussätzigen am Eingang teilte, als
Ein Licht überstrahlte die Stätte.
Der Aussätzige kauerte nicht mehr neben ihm,
Sondern stand verherrlicht vor ihm,
Glänzend und aufrecht, schön und gerade
Wie die Säule an der „schönen Tür”.
Zum Bewußtsein jedes einzelnen führt eine Tür, „die da heißt, die schöne'”; aber wie bei dem in der Sage genannten Ritter vor alters, der nach weltlichen Schätzen suchte, oder bei dem Lahmen zur Zeit der Pfingsten können Jahre der Krankheit, des Leidens, vielleicht des Wanderns vergehen, ehe man lernt, vom Vergänglichen wegzusehen und auf dem geraden und schmalen Wege geistigen Lebens die schöne Tür zu suchen, die zum Himmelreich auf Erden führt. Zuweilen kommt diese geistige Erkenntnis durch Gebet und Hingebung, zuweilen dadurch, daß man die Schwierigkeiten des täglichen Lebens mutig ins Auge faßt, oft dadurch, daß man sein Brot mit einem Notleidenden teilt. Zuweilen kann man diese schöne Tür in der Ferne erblicken und ihr beständig entgegenschreiten, oder man stößt wiederum plötzlich an einer Biegung des Weges auf sie und verliert sofort seinen früheren falschen Sinn von Werten. Jeder schreitet auf seine eigene Art und Weise einer Tür entgegen, die er einst „die schöne” heißen wird, weil sie ihn um die „Stunde, da man pflegt zu beten”, zum Tempel Gottes führt.
Keine stattlichen Säulen bezeichneten die Stätte, wo Jakob die Leiter sah, die von der Erde bis an den Himmel reichte, und an der er die Boten Gottes als Engel auf- und niedersteigen sah, den Ort, wo er die Stimme Gottes hörte, die ihn zu einem Sinn von umfassenderen Gelegenheiten und größeren Verantwortlichkeiten erweckte und ihn der göttlichen Führung versicherte. Trotzdem rief Jakob, als er bei Tagesanbruch sein Haupt von dem Stein, worauf es geruht hatte, erhob, aus: „Hier ist nichts anderes denn Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels”. Allein bei Nacht in der Wüste, mit den Sternen als einzigen Wächtern, hatte Jakob die schöne Tür, den Weg zum Himmel oder zur Harmonie gefunden, und nach diesem Erlebnis vergaß er auf allen seinen Wanderungen und in mancher Trübsal nie die geistige Erscheinung.
Zu Hause oder im Geschäft, im Gefängnis oder im Palast, tief unter oder hoch über der Erde, auf dem Meere oder in der Wüste kann man diese schöne Tür geistiger Eingebung finden. Sie steht auf der schlichten, geraden Straße liebevoller alltäglicher Pflichterfüllung, ehrlicher Geschäftsverfahren, großmütigen Benehmens, des Heilens der Kranken und des Tröstens der Leidtragenden. Wo auch immer die Wahrheit geoffenbart wird, ist die Tür, die zu ihr führt, stets schön, wenn man sich auch zur betreffenden Zeit ihrer Lieblichkeit nicht bewußt ist. Unversehens kam Saulus von Tarsus um die Mittagsstunde auf dem Wege nach Damaskus, wo er die Nachfolger Jesu verfolgen wollte, an die schöne Tür. Kein sichtbarer Torbogen bezeichnete die Stelle, wo ihn, Saulus, das „Licht vom Himmel” umleuchtete, und wo er die Stimme der Wahrheit vernahm. Aber die Offenbarung des hohen Standes des Menschen als des Kindes Gottes war für ihn so wunderbar. daß er für den Augenblick seinen irdischen Gesichtssinn verlor. Nachdem Saulus von dieser Blindheit geheilt war, war sein ganzes Wesen so umgewandelt, daß sein Name in Paulus geändert wurde, und er erkannte sich als „auserwähltes Rüstzeug”, das dazu bestimmt war, das Evangelium von Jesus dem Christus der heidnischen Welt zu verkündigen. Von erhabenem Eifer erfüllt, schrieb Paulus später: „Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Fährlichkeit oder Schwert? ... Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn”.
Im Glauben daran, daß diese Worte des Paulus und andere ähnliche Bibelstellen buchstäblich wahr, und daß die Heilungswerke Jesu in jedem Zeitalter beweisbar sind, fand Mary Baker Eddy die schöne Tür auf dem Wege des Glaubens an die Kraft des richtig verstandenen Wortes Gottes. Mit ihrem Lehrbuch, der geistigen Auslegung des Wortes Gottes, hat Mrs. Eddy alle Perlentore wiedergeöffnet, die in die Stadt führen, die viereckig liegt, in das neue Jerusalem, das keinen sinnlich wahrnehmbaren Tempel oder Leib hat, weder der Sonne noch des Mondes als Leuchten bedarf, keine Notwendigkeit unablässigen Mühens, keine Begrenzung, kein Ringen um Wohlstand und Stellung kennt. In dieser Stadt gibt es keine Tränen, keinen Tod, keine Sünde, keine Krankheit; denn man tritt in sie durch die schöne Tür geistigen Verständnisses ein. Nicht ein Strom der Vergessenheit oder der Tod trennt diese heilige Stadt vom Menschen; denn sie ist, wie es der Offenbarer voraussah, das auf die Erde herniedergekommene Reich oder die Erkenntnis Gottes.
Viele Menschen sind sich schon jetzt ihres mitarbeitenden Bürgertums in dieser Stadt Gottes bewußt und gehen, wie Jesus, als er unter den Menschen weilte, umher, die Kranken heilend, unreines Denken reinigend, die von Kummer und Sorge Niedergedrückten tröstend. Solche Arbeiter, die gesinnt sind, „wie Jesus Christus auch war”, schätzen freudig die Wahrheit, wie sie durch die Christliche Wissenschaft geoffenbart und von Mrs. Eddy in „The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany” (S. 132) mit folgenden Worten zum Ausdruck gebracht ist: „Die göttliche Liebe hat uns die schöne Tür dorthin geöffnet, wo wir Gott schauen und leben können, wo wir Gutes im Guten,—Gott, alles, den einen,—ein Gemüt und zwar das göttliche sehen können, wo wir unsern Nächsten wie uns selbst lieben und unsere Feinde segnen können”. Und ferner sagt sie (S. 133): „In dem großen Lichte der Gegenwart, in der Macht und im Lichte der gegenwärtigen Erfüllung denke ich oft hieran. So sollen sich schließlich alle Erdenkinder zu Gott bekennen und eins sein; so sollen sie auf Seinem heiligen Berge, der gottgekrönten Höhe der göttlichen Wissenschaft, wohnen”.