In einer Gefängniszelle lag einst ein Mann. Dunkle Mauern umschlossen ihn. Das kleine, engvergitterte Fenster ließ das Licht nur spärlich zu ihm hineindringen Die Tür war mit festen Riegeln verschlossen
Lange hatte er dort gelegen und sein hartes Geschick beweint. Die Vorübergehenden sahen ihn mitleidig an. Manche gaben ihm mit Tränen des Mitleids in den Augen ein freundliches Wort, denn er war unschuldig, war durch bloßes unglückliches Mißverständnis ins Gefängnis gekommen. Viele hatten wohl den ernsten Wunsch, ihn zu befreien, konnten aber nicht die Mittel und Wege finden. Und so sehnte er den Tod herbei.
An einem hellen Sommertag ging ein Mann an seinem Fenster vorüber, schaute gleichgültig hinein, blieb stehen und sagte: „Lieber Freund, warum weinst du?” Der Gefangene sah auf. „Habe ich denn nicht Grund zum Weinen? Schon jahrelang liege ich hier eingekerkert und habe doch nichts weiter verübt als jene bedeutungslosen Vergehen, welche sich viele geachtete Leute zuschulden kommen lassen. Ich tat mein Bestes, und dennoch liege ich in diesem dunklen Loch, kaum lebendig und leider noch nicht tot.”
Tiefes Mitleid ergriff den anderen und er erwiderte: „Lieber Bruder, wenn du dich in dieser finstern Zelle so elend fühlst, warum gehst du denn nicht hinaus in die liebe Sonne, in die schöne Welt, auf die goldenen Felder, zu den fröhlichen Vögeln?”
Der Gefangene ballte die Fäuste. „Wie darfst du, der du in der Freiheit bist, es wagen, mich hier in meinem tiefen Elend zu verhöhnen?”
Der andere schüttelte den Kopf. „Ich verhöhne dich nicht. Der Weg ist offen, ist stets offen gewesen. Die Mauern, welche dich umringen, sind bloß bemalte Leinwand und das Gitter besteht aus geschwärztem, brüchigem Kalk. Die Türriegel waren nie vorgeschoben. Mensch, du bist frei! Das einzige, dessen du bedarfst, ist dies: Erkenne Gottes Wahrheit und tritt heraus. Deine Fesseln sind nur falsche Annahmen; sei frei!”
Der Gefangene rang nach Atem. „Der Mensch ist wahnsinnig. Er weiß nicht was er sagt. Unzählige sind an mir vorübergegangen, keiner hat mir das gesagt, und doch hatten alle tiefes Mitleid mit mir. Es ist sicherlich nicht wahr.”
„Die anderen wußten es nicht besser,” erwiderte der Fremde.” Steine und Gitter schienen auch ihnen wirklich zu sein. Ich aber habe die Sache erprobt und erkenne die Wahrheit.”
Der Gefangene richtete sich auf. Ein Hoffnungsschimmer leuchtete aus seinen Augen. „Beweise mir deine Worte,” sagte er gespannt. „Sind diese Stäbe Kalk, so zerbrich sie, wenn auch nur einen.”
Der andere schüttelte lächelnd das Haupt. „Legst du denn so geringen Wert auf deine Freiheit, daß du es nicht der Mühe wert achtest, deine Kraft an einem einzigen Stab zu erproben?”
Der Mann erhob sich. Seine gelähmten Knie wankten unter ihrer bebenden Last. Seine Hand zitterte wie Espenlaub, als er nach einem Eisenstab griff; und siehe da, er zerbröckelte unter seiner Berührung.
Starr vor Erstaunen stand er da. Er richtete sich vollends ganz auf, fühlte seine Glieder erstarken, in seinen Augen leuchtete die Hoffnung und das Wissen, daß die Welt sein sei.
Die Gitter brachen zusammen und die Leinwand-Mauern zerrissen unter seinen gierigen Händen. Die Tür flog auf Und ein Mensch trat in die Welt hinaus! In tiefem Sinnen wandelte er dahin. Sein Freund sah ihn fragend an. Endlich sah der Freigewordene auf und begegnete dem fragenden Blick. „Meine Arbeit?” fragte er.
„Kennst du sie nicht?”
„Ich kenne sie; ich muß all diese dünnen Mauern, die so viele Leute gefangen zu halten scheinen, niederreißen.”
„Riß ich die deinen nieder?”
Der andere stutzte. „Ich muß ja aber doch arbeiten,” sagte er. „Ich fühle es in mir, daß ich viel zu tun habe. Ich sehne mich nach Arbeit. Sage mir, inwiefern ich im Irrtum bin.”
Der andere legte ihm die Hand auf die Schulter. „Freund, du hast eine Arbeit zu verrichten — eine große, segensreiche Arbeit. Du mußt das Leben der Freiheit leben. Du mußt durch deinen Lebenswandel zeigen, was gut und rein und edel ist. Du mußt immer bereit sein, deinen Mitmenschen zu helfen, wenn sie deiner bedürfen. Du mußt offene Augen haben, um die Hilfe auf die rechte Weise geben zu können. Dein Ohr muß stets der Wahrheit offen stehen; du mußt dir dieselbe aneignen, und deine Lippen müssen stets bereit sein, sie zu verkündigen. Dein ganzes Leben muß tätig, ernst, rein und voll Liebe sein. Auf diese Weise bringst du den Menschen zum Ausdruck, den dein Schöpfer erschaffen hat.”
