Wenn Christian Science bloß ein intellektueller Zeitvertreib wäre, oder wenn sie nur eine Gefühlserregung bewirken würde, so könnte sie nun und nimmer das Heilungswerk der ersten Christen vollbringen. Ihre Wirkung ist jedoch ganz anderer Art. Sie appelliert an des Menschen höchste, an seine geistige Natur, lehrt ihn das wahre Gottvertrauen und bringt ihm den Lohn dafür. Sie verkündet der Menschheit eine frohe Botschaft: Befreiung von Pein, Leiden und Krankheit. Dadurch, daß die von ihr versprochenen Segnungen in Erfüllung gegangen sind, hat sie sich als wahr bewiesen. Sie hat nicht durch Mißerfolge, sondern durch Erfolge, durch gute Werke die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Selbst ihre strengsten Tadler müssen jetzt zugeben, daß sie sich als eine heilende Religion bewiesen hat.
Die tragischen Ereignisse des Lebens haben wohl der Poesie von jeher das meiste Material geliefert. Selbst die frivolsten Menschen wurden durch ihre ihnen unerklärlichen Leiden dazu angetrieben, die Bedeutung des Lebens zu erforschen. Nun kommt die Theologie der Christian Science und enthüllt das Geheimnis. Sie geht aber einen Schritt weiter: sie beseitigt das Leiden. Wenn dem Uneingeweihten oder dem Anfänger das Heilen der Christian Science wichtiger erscheint als ihre Religion, so kommt das daher, daß er die geistige Ursache des Heilens noch nicht erkannt hat. Tatsache ist es, daß die Theologie der Christian Science die Kranken wiederherstellt und zugleich die Sünder bekehrt. Christian Science ist daher kein philosophisches System, sondern sie lehrt das Leben, welches der Mensch führen, die Wahrheit, welche er beweisen muß.
Wenn man alle die religiösen Systeme überschaut — sowohl diejenigen, welche wir durch Überlieferung erhalten haben, als auch diejenigen, welche in der Heiligen Schrift aufgezeichnet sind, — so wird man finden, daß sie alle behaupten, die geoffenbarte Wahrheit zu verkündigen. Was nun auch immer das Wesen der Wahrheit sein mag, eins ist gewiß: die Lehren Jesu Christi unterscheiden sich von allen anderen durch ihre Tatbeweise,— durch ihre Macht über Krankheit und Tod. Er konnte deshalb erklären: „Ich bin kommen, daß sie das Leben und volle Genüge haben sollen.” Ferner ist die Wahrheit, welche Kranke heilt und Sünder bekehrt, die einzige beweisbare Religion, denn des Meisters Heilungswerk sowie seine Auferstehung und Himmelfahrt demonstrieren das belebende Element im Christentum.
Das Werk des Heilens, welches Jesus ausübte, ist seit Jahrhunderten von den Kanzeln herab verkündigt worden; es gibt uns jedoch — um ein Beispiel anzuführen — die einfache Erzählung von der Heilung der fieberkranken Schwieger des Petrus keine genügende Auskunft über das Verfahren, nach welchem Jesus das Fieber vernichtete. Angenommen, es würde jemand die einfachen Worte Jesu ihm nachsprechen und die Krankheit auf seine Weise anreden, würde eine solche Anwendung der äußeren Form die wirksame Kraft offenbaren, welcher er sich bediente, oder würde dadurch der Vorgang so erklärt, daß ein anderer desgleichen tun könnte? Die Verneinung dieser Frage liegt in der Tatsache, daß die Werke Jesu viele Jahrhunderte lang nicht getan wurden. Christian Science ist eine höchst praktische Religion, indem sie nicht nur die Kraft angibt, welche Jesus anwandte, sondern auch die Regel erklärt, deren Befolgung es anderen ermöglicht, dieselben Werke zu tun. Diese Regel ist so einfach, daß ein Kind sie verstehen und sich des Schutzes, den sie gewährt, erfreuen kann. Das Verständnis derselben ist ein Universalmittel für jeden Menschen und für alle Zeiten, möge nun das Übel in einem kranken Körper oder einem kranken Geist bestehen, denn Jesus sagte ja: „Wer an mich glaubet, der wird die Werke auch thun, die Ich thue, und wird größere denn diese thun; denn Ich gehe zum Vater.”
Die fortschreitende geistige Entdeckung.
Die Tatsache, daß Jesus des Hauptmanns Knecht und der Syrophönizierin Tochter heilte, ohne in ihrer Nähe zu sein, zeigt klar und deutlich, daß die Kraft, welche durch ihn wirkte, geistig war,— ja so geistig wie das Gebet irgend eines Christen. Ein englischer Dichter stellt die Frage: „Im Grunde genommen: aus was besteht denn der Mensch anders als aus seinem Geist?” Wir könnten weiter fragen: „Was ist Gott anders denn göttlicher Geist?” Man kann sich einen allwissenden und allweisen Gott doch nur als Geist denken? Wie kann ein allgegenwärtiger Gott überall sein, es sei denn, daß diese Gegenwart Geist ist? Die Worte des Apostels Paulus: „Fleischlich gesinnet sein ist der Tod, und geistlich gesinnet sein ist Leben und Friede” weisen doch auf die Tatsache hin, daß die Heilkraft im Geist und nicht in der Materie zu suchen ist.
Die Erklärung der Art und Weise, wie Gott unsere Bedürfnisse befriedigt, mag wohl ebenso schwierig erscheinen wie das Erforschen der Sterne. Da frühere Generationen uns Gottes Botschaft überliefert und uns dadurch den rechten Weg gezeigt haben, so mag es von Interesse sein zu untersuchen, auf welche Weise die Propheten des Altertums das Verständnis der heilenden Kraft Gottes erlangten, denn es ist ja unsere Aufgabe, ihre guten Werke nachzuahmen. Abraham, der erste Patriarch, war im Götzendienst aufgewachsen; aber dennoch empfand er göttliche Triebe und fing an, über die höhere, die geistige Bedeutung der weltregierenden Macht nachzudenken. Er sah ein, daß es anstatt vieler verschiedenartiger Götter nur einen Geist, nur eine Intelligenz, nur einen Gott gibt und daß dieser eine Gott das Weltall und den Menschen regiert. Es war dieselbe Macht, die später die Fluten des Roten Meeres teilte und der Löwen Rachen zuhielt. Abrahams beständige Treue gegen diese leitende und errettende Macht erzeugte in ihm einen unerschütterlichen Glauben an ihre Allheit. Gott offenbarte sich ihm als „der Allmächtige.” Obgleich er nun fest an diese errettende Macht und ihre Verheißungen glaubte, so muß doch sein Begriff von dieser Allmacht beschränkt gewesen sein, denn die Stimme Gottes sprach zu Moses: „Und bin erschienen Abraham, Isaak und Jakob als der allmächtige Gott; aber mein Name Herr [Jehovah] ist ihnen nicht offenbart worden.” Hieraus ist ersichtlich, daß über die Beziehung des einen Geistes zu den menschlichen Bedürfnissen noch mehr zu lernen war.
Moses war von Jugend auf im Glauben an Gott unterrichtet worden; als er aber anfing zu verstehen, was er früher nur geglaubt hatte, entdeckte er gleich zu Beginn die Macht, deren Eingebungen Abrahams Glauben bewirkten. Es ist klar, daß Moses ein scharfer Beobachter war. Er kam zu der Einsicht, daß diese Macht nicht auf einzelne Orte beschränkt ist — etwa wie Goldklumpen, die man da und dort findet —; daß sie sich nicht ausschließlich an heiligen Stätten und zu geheiligten Zeiten offenbart, sondern daß sie nach bestimmten Gesetzen wirkt, die von diesem einen göttlichen Prinzip oder Geist ausgehen. Er erkannte die Kraft Gottes als stetsgegenwärtiges Gesetz, als heilende und errettende Kraft. Diese als bestimmtes Gesetz wirksame Macht war es, die sich durch Freiheit von den Plagen, durch Errettung aus dem Roten Meer und durch Schutz vor den Schrecken in der Wüste kundgab, bis ihre Zuverlässigkeit und ihr wahres Wesen absolut festgestellt worden war. Wir haben deshalb in der Heiligen Schrift nicht nur Abrahams Erkenntnis, daß Gott allmächtig ist, sondern auch die mosaische Erklärung: „Treu ist Gott und kein Böses an ihm; gerecht und fromm ist er”; und der Psalmist fügt hinzu: „Dein Gesetz ist Wahrheit.”
Obgleich nun die Israeliten das Gesetz hatten, nach dem Gesetz lebten und durch das Gesetz befreit wurden, so fehlte ihnen dennoch eins: die endgültige Offenbarung, welche des Gesetzes Erfüllung ist, hatten sie noch nicht empfangen. Deshalb harrten sie sehnlichst auf den Immanuel, den Gott-mit-uns. Sie erwarteten, daß dieser Immanuel ihnen eine volle Offenbarung der Wahrheit bringen werde. Diese Offenbarung sollte ihnen die Gegenwart Gottes zum Bewußtsein bringen. Als Christus Jesus dann endlich kam, widmete er sich diesem Werk der fortschreitenden Offenbarung und führte dasselbe zu seiner Vollendung. Er baute auf Erden sozusagen eine ununterbrochene Bahn zum Reich des Vaters. Seine Werke rechtfertigten ihn; deshalb sagte er: „Glaubet doch den Werken, wollt ihr mir nicht glauben.” Ja, gerade diese Werke des Heilens und der Bekehrung hatten Moses und die Propheten verkündigt. Es war die Aufgabe Jesu Christi, uns durch die Offenbarung des Heilungswerkes den Weg zu zeigen, und das geistige Verständnis, welches Sünde und Krankheit vernichtet, ist zu allen Zeiten dasselbe, — derselbe Christus, dieselbe Wahrheit. Jesus sagte deshalb: „Niemand kommt zum Vater denn durch mich,” d.h. durch das Erkennen der göttlichen Wahrheit, welches die Heilung bewirkt.
Wie aus der Bibel ersichtlich ist, fehlte den Israeliten das christliche Verständnis, daß Gott Liebe ist. Nun ist aber dieses Verständnis sehr wichtig, denn es stehet geschrieben: „Wer nicht Liebe hat, der kennet Gott nicht; denn Gott ist Liebe.” Ferner erklärt Paulus: „So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.” Wir sehen also, daß die stetsgegenwärtige Liebe die Kranken heilt, die Sünder bekehrt und so das Gesetz erfüllt.
Scientifische (wissenschaftliche) Entdeckung.
Um der oftgeäußerten Bemerkung zuvorzukommen, daß Christian Science weder christlich noch scientifisch (wissenschaftlich) sei, habe ich in Kürze diese Idee des göttlichen Gesetzes, wie es in der Liebe erfüllt ist, dargelegt. Was heißt es, in einer Wissenschaft (Science) bewandert zu sein? Wie Sie alle wissen, bedeutet das Wort Wissenschaft klassifizierte Kenntnis. Sie erklärt ein Gesetz als Einheit, als geordnetes System. Gerade das tut Christian Science. Sie zeigt das göttliche Gesetz als Einheit, als geordnetes System, und zwar verfährt sie mit solcher Bestimmtheit und Genauigkeit, daß sie als Beweis ihrer Richtigkeit auf ihr Heilungswerk hinweisen kann. Sie ist deshalb im höchsten Grad scientifisch oder wissenschaftlich. Christlich ist sie, weil das Gesetz, welches sie erklärt nicht physisch, sondern geistig, göttlich, mitleidsvoll und heilsam ist.
Ein jeder Christ möchte gerne die Werke tun, die Jesus tat; ein jeder würde sich freuen, wenn er, wie die ersten Christen, ein hinreichendes Verständnis des göttlichen Gesetzes hätte, um die Kranken heilen und die Sünder bekehren zu können. Wenn nun jemand das göttliche Gesetz und seine geistige Bedeutung versteht, so ist er so gewiß ein Christian Scientist, als einer, der die Gesetze der Mathematik versteht, ein mathematischer Scientist oder ein Mathematiker ist. Die Fähigkeit, die Werke Jesu zu tun, verlor sich in dem Götzendienst und dem Materialismus des Mittelalters, und es konnte kein Fortschritt stattfinden, bis das den Werken Jesu zugrundeliegende Prinzip wieder entdeckt wurde. Jesus versprach uns einen anderen Tröster, den „Geist der Wahrheit,” der uns „in alle Wahrheit leiten” werde. Dieser Tröster konnte nur durch die Offenbarung des Heilungswerkes kommen. Mrs. Eddy entdeckte nicht bloß das Prinzip des Heilens, wie es in der ersten Christenheit zur Geltung kam, sondern auch die diesem Prinzip zugrundeliegende Science oder Wissenschaft, und nannte ihre Entdeckung Christian Science. Diese Christian Science ist in der Tat der Tröster, der Geist der Wahrheit, der uns in alle Wahrheit leitet, indem er uns die praktische Science oder Wissenschaft des christlichen Heilens lehrt und uns dadurch befähigt, die Werke Jesu zu tun.
Geistige Tätigkeit.
Wenn ein Mensch an einer schweren Krankheit leidet, so ist es gewiß von großem Interesse für ihn zu lernen, wie er unter die Wirkung des göttlichen Gesetzes kommen kann, um wiederhergestellt zu werden; wie er sich davon überzeugen kann, daß Gott wirklich „eine Hilfe in den großen Nöten” ist. Nun wird aber ein Schüler nie beten, daß sich sein Rechenexempel selbst lösen möge, denn dann wäre kein Verständnis nötig. Er hat das Exempel, er hat die Regel und muß dann nach der Regel handeln. Es muß bei ihm eine geistige Tätigkeit stattfinden. Wenn er sich nach der mathematischen Regel richtet, so ist eine korrekte Lösung unausbleiblich. Christian Science lehrt uns das göttliche Gesetz, unter dessen Wirkung wir kommen müssen, um die Probleme der Sünde und der Krankheit zu lösen. Die Tatkraft des unendlichen Geistes gibt diesem Gesetz die heilende Wirkung. Der Prophet Sacharja drückt diesen Gedanken in folgenden Worten aus: „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth”; und Jesus sagte: „Aber es kommt die Zeit, und ist schon jetzt, daß die wahrhaftigen Anbeter werden den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit.” Wenn unsere geistigen Sinne, vermittelst deren wir Gott anbeten, vom göttlichen Gesetz, d.h. scientifisch geleitet werden, dann ist christliches Heilen sicher. Es liegt eine tiefe Bedeutung in der Tatsache, daß Jesus bei seinem Amtsantritt die prophetischen Worte Jesajas zitierte: „Der Geist des Herrn ist bei mir.” Gleich darauf begann er mit der Lösung seiner Probleme; er bewies sein Verständnis des göttlichen Gesetzes durch die Vernichtung der Sünde und der Krankheit; er heilte die Kranken, reinigte die Aussätzigen, weckte die Toten auf und trieb die Teufel aus. Außerdem erklärte er: „Gott ist Geist.”
Gott ist Prinzip.
Obgleich Christian Science keinen neuen Gott lehrt, so hat sie doch verschiedene Namen für Ihn. Diese Namen sind menschliche Bezeichnungen für den einen Gott, je nach Seinen verschiedenen Ämtern. Wahrheit z. B. ist das Gesetz, Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes, Geist demonstriert die Science (Wissenschaft) des Gesetzes usw. Angenommen, wir befinden uns in einem sechseckigen Zimmer, dessen Wände aus großen Spiegeln bestehen und in dessen Mitte eine Lampe hängt. In jedem Spiegel erblicken wir ein vollkommenes Bild der Lampe, und alle diese Bilder sehen einander ähnlich. Und doch hat jeder Spiegel seine besondere Aufgabe. Der eine stellt die nördliche Seite der Lampe dar, der andere die südliche Seite, usw.; alle sind sie nötig, um den Gegenstand vollkommen darzustellen. In gleicher Weise brauchen wir verschiedene Synonyme, um das ganze, das vollkommene Wesen Gottes zu beschreiben. Auf Grund biblischer Erklärungen bezeichnen wir Gott als Geist, Seele, Leben, Wahrheit, Liebe. Alle diese Namen drücken ein besonderes Amt der Gottheit aus, obschon sie im Wesentlichen gleich sind. Die göttliche Liebe ist Geist, und Geist ist Gott.
Christian Science lehrt also keinen neuen Gott; sie gibt uns bloß einen neuen Namen, welcher die anderen Synonyme für Gott in sich schließt, und dieser neue Name ist Prinzip. Man kann sich unmöglich ein göttliches Gesetz ohne ein dasselbe regierendes Prinzip denken, und deshalb lehrt Christian Science, daß Gott das göttliche Prinzip ist. Wir finden eine Erläuterung dieser Sache im „Century Dictionary,“ wo die Wörter „Prinzip” und „Regel” folgendermaßen definiert werden: „Eine Regel kann man anordnen, aber kein Prinzip. Eine Regel kann man aufstellen, aber ein Prinzip, richtig ausgedrückt, keineswegs. Eine Regel kann man festsetzen aber nie ein Prinzip; es ist schon festgesetzt und man kann nichts weiter tun als dasselbe behaupten.” Derjenige, den das Wort Prinzip an die Strenge des mosaischen Gesetzes mit seinem „du sollst” und „du sollst nicht” erinnert, muß lernen, daß das göttliche Prinzip alle Weisheit, Intelligenz und Vollkommenheit kundgibt; daß es die ganze Fülle der göttliche Liebe ausdrückt, welche die wunden Herzen verbindet und die Gefangenen befreit.
(Schluß folgt.)
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