Es werden oft Bemerkungen darüber gemacht, daß Christian Scientisten den 91sten Psalm so sehr oft zitieren und daß sie für denselben eine besondere Vorliebe zu haben scheinen. Tatsächlich finden sie in diesem Psalm reichen Trost und zwar offenbar darum, weil er der leidenden Menschheit eine sehr klare und bestimmte Botschaft bringt. Kein anderer Teil der Bibel wird wohl von Christian Scientisten eifriger studiert, das 8. Kapitel des Römerbriefes, die Bergpredigt und die zehn Gebote vielleicht ausgenommen. Gar herrliche Verheißungen enthält der 91ste Psalm, und wer ihn ernstlich studiert, wird reichlich belohnt. Jeder Vers schließt einen Schatz in sich. Keine Zeile scheint überflüssig zu sein. Jedes Wort hat eine tiefe Bedeutung. Es dient dieser Psalm wirklich als eine Behandlung; er flüstert uns Trost und Segen zu; er bewirkt Frieden und Gesundheit; er führt uns auf geistige Höhen und bringt uns in den beseligenden Umgang mit dem Quell aller Gesundheit und Heiligkeit. Er dient dazu, die Wolken des Zweifels und der Unsicherheit zu verscheuchen, indem er Mut und Hoffnung einflößt.
Die wichtigsten Zusagen des 91sten Psalms sind Schutz und Sicherheit. Er verspricht uns nicht nur Schutz und Sicherheit, sondern er sagt uns auch, wo sie zu finden sind. Die Sterblichen schauen sich allerwärts nach einem Ort um, wo ihnen keine Gefahr droht, haben ihn aber in der Materie noch nie gefunden. Unser Psalm erklärt deutlich, daß dieser Ort im Geist, in Gott zu finden ist. Die Menschenkinder fürchten sich im Tale zu bleiben und fürchten sich, auf den Berg zu gehen. Sie fürchten sich vor der Erde, dem Wasser und der Luft. Sie fürchten sich zu Hause zu bleiben und fürchten sich auszugehen. Sie fürchten sich vor dem Essen und fürchten sich vor dem Fasten. Sie fürchten sich vor einander, fürchten sich vor dem Teufel, und was am allertraurigsten ist, sie fürchten sich vor Gott. Wenn sich etwas ereignet was man auf keine andere Weise erklären kann, so sagen die Sterblichen, Gott habe es nach Seinem unerforschlichen Rat so verordnet. Und doch bemühen sie sich, Ihn zu lieben.
„Der Mensch, vom Weib geboren,” mit all seiner Furcht, erinnert an die Worte Hiobs: „Denn das ich gefürchtet habe, ist über mich gekommen.” Die Gefahren, welche Unwissenheit und Aberglaube heraufbeschwören, um uns zu peinigen, werden durch unsere Furcht vor denselben und unseren Glauben an dieselben vergrößert und scheinbar in unserer individuellen Erfahrung verwirklicht. Zu allen denjenigen, die sich fürchten, sagt der Psalmist: „Daß du nicht erschrecken müssest” [nach der englischen Bibel: „Du sollst nicht erschrecken”]. Wie tröstend wirkt doch diese Botschaft! Wie angenehm berührt sie das beunruhigte, leidende Sinnenbewußtsein und ermahnt uns zum Vertrauen. Sie erinnert uns an die ermutigenden Worte des Jesajas: „Du erhältst stets Frieden nach gewisser Zusage; denn man verläßt sich auf dich.” Diese Worte drücken denselben Gedanken aus, der im 91sten Psalm vorherrscht, nämlich den Gedanken des Friedens, der Freiheit von Disharmonie. Wo finden wir diese Segnungen? Nicht in der Materie, nicht in materiellen Heilmitteln, nicht in der materialistischen Theologie. Sie sind sonst nirgends zu finden als in dem Bewußtsein, das nur Gott und seine Schöpfung anerkennt. Wir müssen sie im Geistigen suchen, in der Freiheit vom Fleischlichen. Paulus sagt: „Fleischlich gesinnet sein ist der Tod, und geistlich gesinnet sein ist Leben und Frieden.” Materiell denken ist Tod, geistig denken ist Leben.
„Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt, und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt, der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.” Wo finden wir diesen Schirm, diesen Schatten, diese Burg? Kann die Lage dieses sicheren Ortes geographisch bestimmt werden? Hat ein Reisender oder Erforscher diesen Ort je entdeckt? Liegt er östlich oder westlich, oben oder unten? Welchen Weg müssen wir einschlagen, um ihn zu erreichen. Weder die Medizin, noch die Theologie beantworten diese Frage. Die Medizin gibt ihre diesbezügliche Unkenntnis und Hilflosigkeit offen zu. Die Theologie sagt: „Dort oben,” und schaut mit unsicherem Blick nach dem blauen Himmel. Jesus wußte, wo dieser sichere Ort ist. Er zog sich oft dahin zurück, „um sich durch klarere, durch geistige Aussichten zu erfrischen” („Science and Health,“ S. 32). Er sagte: „das Reich Gottes ist inwendig in euch.” Mit diesen Worten entschied er auf alle Zeiten die Frage, wo der Himmel sei. Er ist ein Zustand des geistigen Bewußtseins, und wir sind in demselben sicher geborgen. Mit anderen Worten: des Menschen Sicherheit liegt in wahrer Frömmigkeit, in guten Gedanken, in einem vergeistigten Bewußtsein. Er muß sein Denken auf Gott richten. Er muß immer „unter dem Schirm des Höchsten und unter dem Schatten des Allmächtigen” bleiben. Dieser sichere Ort ist Gott bekannt, denn er hat ihn erschaffen. Alle seine Geschöpfe kennen denselben, denn sie bewohnen ihn. Nur der Nachkommenschaft Adams ist er fremd; sie hat denselben nie bewohnt und weiß nicht, wo er ist. Aus diesem Grunde sind „die Erlösten” an diesem Ort sicher geborgen. Der sterbliche Sinn, welcher Krankheit und Tod in sich schließt, kann den Weg dahin nicht finden. Er weiß nicht, wo der Himmel und dessen Bewohner sind.
Das Übel kann nirgends anders Macht beanspruchen als in seinem eigenen Reich. Wenn wir zugeben, daß wir uns in diesem Reich befinden, so sind wir der ganzen Strafe ausgesetzt, welche unser Aufenthalt daselbst angeblich mit sich bringt. Wenn wir uns dem Glauben hingeben, daß wir in der Materie sind, so scheinen infolgedessen alle Gesetze der Materie, der Physiologie und der Gesundsheitslehre Macht über uns zu haben. Es ist also darum fleischlich gesinnet sein der Tod, weil wir geistig unsere Identität mit dem in Verbindung bringen, was den Tod in sich schließt. Mrs. Eddy sagt: „Jenachdem wir den Ansprüchen des Guten oder des Übels beistimmen, wird die Harmonie unseres Seins zum Ausdruck kommen,— unsere Gesundheit, unsere Lebensdauer und unser Christentum” („Science and Heath,“ S. 167). Wenn es uns klar wird, daß wir in Gott „leben, weben und sind,” haben wir Frieden, denn in Gott gibt es kein Grauen, keine Pfeile, keine Pestilenz.
Als Bewohner dieses sicheren Ortes, d.h. in dem geistigen Zustand, in dem wir Gott allein anerkennen und das Übel verwerfen, mögen wir sehen, wie alle um uns her die Strafe für ihre entgegengesetzten Annahmen erdulden. Sie sind krank zufolge des Gesetzes, an das sie glauben und sterben zufolge desselben; aber es wird, es kann diejenigen kein Übel treffen, die nicht an die Wirklichkeit dieses Gesetzes glauben. Das Ende, das „dem Gottlosen vergolten wird,” hat er sich selbst bereitet.
In dem reinen, geistigen Bewußtsein sind wir immer sicher, in dem materiellen Bewußtsein hingegen keinen Augenblick. Das geistige Verständnis der Allgegenwart Gottes bringt Frieden; die physische Empfindung des Daseins hat jedoch immer nur Elend, Pein, Sünde und Tod verursacht. Wenn wir verstehen, welcher Art unser Wohnort ist und wo er ist, wird es uns klar, warum keine Plage zu unserer Hütte sich nahen kann. Wir müssen einsehen lernen, daß unsere Hütte in unserem Bewußtsein, in unserem Denken ist, und daß, wenn wir die Materie mit ihren Gesetzen der Disharmonie aus unserem Bewußtsein oder Denken ausschließen, uns „kein Übels begegnen” kann. Es gibt dann kein Übel, das uns begegnen könnte. Dieses Bewußtsein ist die Arche — das Sinnbild der Sicherheit —, welche über die stürmischen Wogen der materiellen Sinne und materiellen Dinge dahinfährt, bis sie endlich unerschütterlich und sicher auf dem erhabenen Begriff einer unendlichen geistigen Schöpfung ruht.
Und all dieser Schutz wird dem Menschen verliehen, wenn er Gott „begehret.” Gott begehren heißt „unter dem Schatten des Allmächtigen” bleiben. Wir begehren Ihn nicht, solange wir Sein erdichtetes Gegenteil begehren. Das Streben nach dem Guten bringt uns Schutz und Sicherheit, denn es schließt die entgegengesetzte Tatsache in sich, daß wir nicht nach dem streben, was dem Guten entgegengesetzt ist. Gott ernstlich begehren heißt Ihn lieben, und „völlige Liebe treibet die Furcht aus.” Ein unvollkommener Begriff von Liebe erzeugt Furcht. Die Liebe, auf welche dieser Psalm hinweist, ist die Liebe gegen Geist (Gott) und gegen das Geistige. Dieses geistige Verlangen leitet uns an den sicheren Ort, unter den „Schirm des Höchsten” und unter den „Schatten des Allmächtigen,” wo wir vor nichts mehr „erschrecken.”
Der Herr läßt Gras wachsen auf den hohen Bergen; aber als lieber Gott hat er seinen schönen Blumen den Aufenthaltsort durchschnittlich doch mehr im Tal angewiesen.