Der Anfänger im Studium der Christian Science macht die erstaunlichste Veränderung in der Denkweise durch, die im menschlichen Bewußtsein stattfinden kann. Eine neue geistige Welt entfaltet sich vor seinen Blicken; aus dem Chaos [dem Wirrwarr] erhebt sich der Kosmos [das Weltall], und während dieses Erwachens zur Erkenntnis der Wahrheit überkommt ihn wohl ein Gefühl der Besorgnis angesichts all des falschen Denkens, das berichtigt werden muß. Indem wir die zahllosen irrigen Gedanken verneinen, geraten wir leicht in eine negative Verfahrungsweise. Wir erklären: „Das existiert nicht”, „es gibt nichts derartiges”, „es ist nicht wahr”, bis der Begriff von dem, was wirklich besteht und wahr ist — Gottes Allheit —, verloren gegangen ist. Wir erkennen dann nicht die Wahrheit unsrer Verneinung, und anstatt daß der uns entgegentretende Irrtum vernichtet wird, grünt er wie ein Lorbeerbaum und verdunkelt unsern Begriff vom Wirklichen und Wahren.
Bei allen wissenschaftlichen Folgerungen muß man zunächst ein Grundgesetz annehmen, das positiv ist. Indem man mit einer absoluten affirmativen Behauptung anfängt, hat man ein Etwas, eine bestimmte Tatsache, welche als Grundlage zur Verneinung dient. Nur wenn die Verneinungen in logischer Weise von einer solchen Prämisse oder Voraussetzung ausgehen, haben sie als Tatsachen, als Wahrheit einen Wert. In der Christian Science handelt es sich um die Wahrheit über Gott und den Menschen. Wir müssen also klar erkennen, was Gott (unser positives Prinzip) ist, ehe wir verstehen können, was der Irrtum nicht ist. Ausschließlich in negativer Weise zu arbeiten, ist fruchtlos. Gott ist nicht ein Prinzip aus mehreren, sondern Er ist das allumfassende Prinzip — das All-Gesetz, die All-Macht, die All-Herrschaft, die all-umfassende göttliche Liebe. Es gibt nichts Negatives in Seinem Wesen, nichts, was verneint werden muß. Er schließt alles in sich. Die Begriffe „nichts” und „nicht” können unmöglich mit dem „Ich bin, der ich bin” [Züricher Bibel] in Verbindung gebracht werden. Nichts kann verändert und verneint werden, ausgenommen unser falscher Begriff von Ihm und Seinem Weltall.
Was ist nun der Mensch? „Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn”. Es ist dies eine Affirmation — die heilende Wahrheit, daß der Mensch als der Ausdruck Gottes, des Guten erschaffen wurde, und es folgt daraus, daß auch er „gut”, ja „sehr gut” ist. Dieser wahre, geistige Mensch kennt keine Irrtümer und keine Probleme. Wir müssen daher unsre Augen aufheben „zu den Bergen”; wir müssen in der Wahrheit und nicht im Irrtum arbeiten, bis wir klar einsehen, daß weil Gott unendlich Gutes und der Mensch Seine vollkommene Wiederspiegelung ist, alle Behauptungen zugunsten der Disharmonie elende Lügen und deshalb grundlos, vernunftwidrig und machtlos sind. Sie sind nichts weiter als Illusionen; sie gehören nicht ins Reich des Wirklichen.
Diese Betonung des positiven Verfahrens soll jedoch nicht dahin verstanden werden, daß wir bei unsrer Arbeit das Negieren aufgeben sollen, denn nicht nur das Behaupten, sondern auch das Verneinen ist in unsrer Zeit zum Wachstum im Verständnis der Christian Science nötig. Das eine gibt uns die Grundwahrheit, auf der wir bauen können, das andre widerlegt mit richtigen Folgerungen das falsche Zeugnis der materiellen Sinne. Solche Kapitel in unserm Textbuch wie das über „Christian Science Practice“ [Ausübung der Christian Science] und Erklärungen wie „The scientific statement of being“ [die wissenschaftliche Erklärung des Seins] verweisen uns auf die Notwendigkeit des Verneinens; sie betonen aber zugleich, wie wichtig es ist, ein klares Verständnis der Wahrheit zu haben, wodurch das Verneinen beweiskräftig wird. Wir erinnern ferner an die folgende oft angeführte Ermahnung unsrer Führerin: „Haltet euer Bewußtsein so von Wahrheit und Liebe erfüllt, daß Sünde, Krankheit und Tod nicht in dasselbe eindringen können. Es ist klar, daß nichts einem Bewußtsein [mind] hinzugefügt werden kann, wenn dasselbe bereits voll ist” („Sentinel“ vom 6. Oktober 1906).
Die Christus-Gebote gehen einen Schritt weiter als die zehn Gebote Mosis; sie erklären: „Du sollst”, anstatt: „Du sollst nicht”. Die Heilung wird stets durch das Affirmative, durch die Wahrheit bewirkt. In vielen Fällen sehen wir nicht klar ein, daß Disharmonie vom göttlichen Standpunkt aus unmöglich ist, oder wir glauben unsern eignen logischen Folgerungen nicht. Nur wenn wir uns fest an das Wirkliche, Göttliche anklammern, erhalten unsre Gedanken die nötige Klarheit. Wenn wir wissen, das; Gott gut ist, daß Gott Alles ist und daß der Mensch Seine Wiederspiegelung ist, so genügt uns das vollständig — d. h. wenn wir es wirklich wissen. Es führt nicht zum Ziel, wenn man bloß mit Verneinen die Dunkelheit auszutreiben sucht; man muß zugleich das Licht der Wahrheit hereinlassen. In Mrs. Eddys Werk, „Miscellaneous Writings” (S. 355) lesen wir: „Rechts und links nach dem Nebel zu schlagen, macht die Aussicht nicht klarer; das souveräne Universalmittel besteht darin, daß man das Haupt über den Nebel erhebt.”
Wie die Römer Straßen bauten, die von ihrer Hauptstadt aus nach allen Richtungen liefen, so daß sie sagen konnten: „Alle Wege führen nach Rom”, so führen auch in der Christian Science alle Wege zur Allheit Gottes. Mit dem göttlichen Geist [Mind] beginnen wir und enden wir; Er ist das Alpha und das Omega. Die Bibel ist eine Sammlung inspirierter Schriften, die nur insofern Wert haben, als sie die Allmacht Gottes beweisen. Wir müssen uns den richtigen Begriff von Seiner Allheit bilden und die Ermahnung unsrer Führerin beherzigen: „Erhebe dich in der bewußten Kraft des Geistes der Wahrheit, um die Behauptungen der sterblichen Vernunft umzustoßen” („Science and Health“, S. 395). Wenn wir dies tun, werden wir unsre Verneinungen verstehen. Wir müssen erkennen, daß das Wort Gottes, daß die bestimmte Behauptung der Wahrheit die Kranken heilt. Der Psalmist sagt deshalb: „Er sandte sein Wort, und machte sie gesund”.
Ein Spruch soll nicht bloß Weisheit künden,
Er soll auch Lieb’ zur Weisheit entzünden;
Der weiseste Spruch bringt wenig Gewinn,
Schlägt nicht ein warmes Herz darin.
