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Das Problem des Nußbaums

Aus der Mai 1911-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Ein weißer amerikanischer Nußbaum (hickory), der unsern Rasenplatz beschattet, hat mir eine sehr nützliche Lehre gegeben, die ich zum Besten derer mitteilen möchte, die — bildlich gesprochen — einen solchen Baum in ihrem Garten haben. Jedes Jahr, wenn die andern Bäume zu Frühlingsanfang Blätter zu treiben beginnen, steht dieser Nußbaum noch wochenlang kahl und unfreundlich da. Wie hell auch die Sonne scheint, wie milde auch die Winde wehen, wie warm auch die Frühlingsregen herabströmen, unser Nußbaum rührt sich nicht. Überall neues Leben, herrliches Frühlingsgrün; er allein steht da in kalter Gleichgültigkeit und verrät auch nicht die geringste Neigung, an dem allgemeinen Erwachen teilzunehmen. Und doch machen wir uns seinetwegen keine Sorgen, denn wir wissen, daß etwas später Knospen erscheinen werden, welche dann schwellen und wachsen, bis sie wie kleine Weihnachtskerzen auf den rauhen Zweigen umherstehen. Dann kommt wohl eine Regennacht und Tags darauf warmer Sonnenschein; und siehe da, ein Wunder ist geschehen! Die Weihnachtskerzen sind weich geworden und entfalten sich nun rasch zu zarten Blättlein, die in Form von kleinen, zierlichen Quasten herabhängen. Diese entwickeln sich immer mehr in Bezug auf Form und Farbe, und ehe wir’s uns versehen steht unser störriger alter Nußbaum in herrlichem grünen Gewande da, so daß wir uns bis zum Herbst an ihm erfreuen können.

Als ich eines Tages im kühlen Schatten dieses Baumes saß, kam mir der Gedanke: Warum können wir unsern Lieben gegenüber, die oft schwere innere Kämpfe durchzumachen haben, nicht ebensoviel Geduld beweisen, wie unsern Bäumen gegenüber? Menschen sowohl als Bäume haben ihre besonderen Charaktereigenschaften; wir haben daher keinen Grund, ungeduldig zu werden, weil die innere Entwickelung nicht immer die Gleiche ist. Das Veilchen drängt sich kurz nach dem ersten Frühlingshauch durch die feuchten Blätter, während die Rose wochenlang die sorgsamste Pflege des Gärtners erfordert, ehe sie in voller Pracht dasteht. Und doch sind beide gleich beliebt. Hat das Veilchen ein Recht, die Rose zu tadeln, oder darf die Rose über das Veilchen aburteilen? Eine jede dieser beiden Blumen entfaltet sich eben in ihrer Weise. Weder Selbstgerechtigkeit seitens des Veilchens, noch Selbstverdammung seitens der Rose würde zu ihrem Wachstum beitragen. Sollten wir nun nicht ebensoviel Geduld mit unserm Bruder und unsrer Schwester haben, wie mit dem Gras auf dem Felde, „das doch heute stehet und morgen in den Ofen geworfen wird” ?

Wir wollen einmal einen Rückblick tun und uns ehrlich fragen, ob wir im Umgang mit unsern Mitmenschen ebenso vernünftig gehandelt haben, wie unserm Nußbaum gegenüber. Ist es uns je eingefallen, uns unter seine kahlen Zweige zu stellen und ihm wegen seiner Verspätung Vorwürfe zu machen, oder ihn zu fragen, warum er noch keine grünen Blätter habe, wie die andern Bäume? Gewiß nicht! Er hat uns keine Tränen gekostet, auch haben wir ihm nicht das Leben sauer gemacht, indem wir fortwährend an ihm herumnörgelten und ihn baten, „uns zuliebe” doch wenigstens ein paar Blätter zu treiben. Es fiel uns nicht ein, ihn auf den grünen Weidenbaum nebenan hinzuweisen, mit der Bemerkung, die Nachbarn müßten im Besitz eines solch herrlichen Baumes doch recht glücklich sein. Als verständige Menschen gingen wir ruhig unsres Weges, kümmerten uns um unsre eignen Angelegenheiten und waren überzeugt, daß der Nußbaum desgleichen tun würde. Der Umstand, daß er in unserm Garten steht und unser Eigentum ist, kann nicht als Grund gelten, warum er seine Individualität verlieren oder nicht das Recht haben sollte, sein Heil nach eignem Gutdünken auszuarbeiten.

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