Ein weißer amerikanischer Nußbaum (hickory), der unsern Rasenplatz beschattet, hat mir eine sehr nützliche Lehre gegeben, die ich zum Besten derer mitteilen möchte, die — bildlich gesprochen — einen solchen Baum in ihrem Garten haben. Jedes Jahr, wenn die andern Bäume zu Frühlingsanfang Blätter zu treiben beginnen, steht dieser Nußbaum noch wochenlang kahl und unfreundlich da. Wie hell auch die Sonne scheint, wie milde auch die Winde wehen, wie warm auch die Frühlingsregen herabströmen, unser Nußbaum rührt sich nicht. Überall neues Leben, herrliches Frühlingsgrün; er allein steht da in kalter Gleichgültigkeit und verrät auch nicht die geringste Neigung, an dem allgemeinen Erwachen teilzunehmen. Und doch machen wir uns seinetwegen keine Sorgen, denn wir wissen, daß etwas später Knospen erscheinen werden, welche dann schwellen und wachsen, bis sie wie kleine Weihnachtskerzen auf den rauhen Zweigen umherstehen. Dann kommt wohl eine Regennacht und Tags darauf warmer Sonnenschein; und siehe da, ein Wunder ist geschehen! Die Weihnachtskerzen sind weich geworden und entfalten sich nun rasch zu zarten Blättlein, die in Form von kleinen, zierlichen Quasten herabhängen. Diese entwickeln sich immer mehr in Bezug auf Form und Farbe, und ehe wir’s uns versehen steht unser störriger alter Nußbaum in herrlichem grünen Gewande da, so daß wir uns bis zum Herbst an ihm erfreuen können.
Als ich eines Tages im kühlen Schatten dieses Baumes saß, kam mir der Gedanke: Warum können wir unsern Lieben gegenüber, die oft schwere innere Kämpfe durchzumachen haben, nicht ebensoviel Geduld beweisen, wie unsern Bäumen gegenüber? Menschen sowohl als Bäume haben ihre besonderen Charaktereigenschaften; wir haben daher keinen Grund, ungeduldig zu werden, weil die innere Entwickelung nicht immer die Gleiche ist. Das Veilchen drängt sich kurz nach dem ersten Frühlingshauch durch die feuchten Blätter, während die Rose wochenlang die sorgsamste Pflege des Gärtners erfordert, ehe sie in voller Pracht dasteht. Und doch sind beide gleich beliebt. Hat das Veilchen ein Recht, die Rose zu tadeln, oder darf die Rose über das Veilchen aburteilen? Eine jede dieser beiden Blumen entfaltet sich eben in ihrer Weise. Weder Selbstgerechtigkeit seitens des Veilchens, noch Selbstverdammung seitens der Rose würde zu ihrem Wachstum beitragen. Sollten wir nun nicht ebensoviel Geduld mit unserm Bruder und unsrer Schwester haben, wie mit dem Gras auf dem Felde, „das doch heute stehet und morgen in den Ofen geworfen wird” ?
Wir wollen einmal einen Rückblick tun und uns ehrlich fragen, ob wir im Umgang mit unsern Mitmenschen ebenso vernünftig gehandelt haben, wie unserm Nußbaum gegenüber. Ist es uns je eingefallen, uns unter seine kahlen Zweige zu stellen und ihm wegen seiner Verspätung Vorwürfe zu machen, oder ihn zu fragen, warum er noch keine grünen Blätter habe, wie die andern Bäume? Gewiß nicht! Er hat uns keine Tränen gekostet, auch haben wir ihm nicht das Leben sauer gemacht, indem wir fortwährend an ihm herumnörgelten und ihn baten, „uns zuliebe” doch wenigstens ein paar Blätter zu treiben. Es fiel uns nicht ein, ihn auf den grünen Weidenbaum nebenan hinzuweisen, mit der Bemerkung, die Nachbarn müßten im Besitz eines solch herrlichen Baumes doch recht glücklich sein. Als verständige Menschen gingen wir ruhig unsres Weges, kümmerten uns um unsre eignen Angelegenheiten und waren überzeugt, daß der Nußbaum desgleichen tun würde. Der Umstand, daß er in unserm Garten steht und unser Eigentum ist, kann nicht als Grund gelten, warum er seine Individualität verlieren oder nicht das Recht haben sollte, sein Heil nach eignem Gutdünken auszuarbeiten.
Mrs. Eddy sagt, man müsse bedenken, „daß die Welt groß ist; daß es tausend Millionen verschiedene Arten des Willens, der Anschauung, des Strebens, des Geschmacks und der Liebe gibt; daß eine jede Person ihre eigne Vergangenheit, Natur, Erziehung und Charakteranlage hat; daß das menschliche Leben aus der Arbeit, dem Spiel, dem unaufhörlichen Wirken und aufeinander Zurückwirken dieser verschiedenen Atome besteht” („Miscellaneous Writings“, S. 224). Warum also den Mut verlieren? Wenn auch für die materiellen Sinne keine Veränderung bemerkbar ist, so mag dieselbe dennoch bereits im menschlichen Bewußtsein stattfinden. Niemand kennt die inneren Kämpfe, die der Baum durchzumachen hatte, ehe die harte Rinde weich genug geworden war, um die ersten Knospen erscheinen zu lassen. In gleicher Weise kann niemand die seelischen Konflikte sehen, durch welche sich manche Naturen den Weg zum Lichte bahnen müssen. Was im Innersten des Herzens vorgeht, ist oft nicht einmal den Nächststehenden bekannt. Sollten wir nicht während dieser schwierigen Wartezeit mehr Vertrauen auf ein günstiges Endresultat haben und ein größeres Maß von Geduld und Liebe beweisen?
Nun mag aber dieser oder jener einwenden: „Gerade meine Liebe ist’s, die mich ungeduldig macht. Wenn ich nicht so viel Liebe hätte, so stünde ich wohl diesem Mangel an Fortschritt gleichgültig gegenüber.” O du armes Herz, ist es wirklich Liebe, was dir Kummer bereitet? Wir wollen in Bezug auf diesen Punkt sehr vorsichtig sein, denn es gibt keine Regung des Herzens, hinsichtlich deren man sich so leicht irrt, wie diese. Wenn wir unser Herz sorgfältig erforschen, so zeigt es sich oft, daß unsre vermeintliche Liebe zum Baume größtenteils Eigenliebe war; daß wir den Wunsch hatten, der Baum möge mit seinem Grün unsern Garten zieren und uns dadurch glücklicher machen. Anstatt uns selbst zu bemitleiden, anstatt mit trauriger Miene zu erklären, wir hätten alles getan, was in unsern Kräften steht: wie wäre es, wenn wir das eine Notwendige tun würden, das Allerschwerste (so schwer, daß gar mancher es nie versucht), nämlich, das Gefühl der persönlichen Verantwortlichkeit zu überwinden.
Wir dürfen nicht vergessen, daß dieser Baum nicht „unser” Baum, sondern Gottes Baum ist. Seine Widerspenstigkeit und sein unschönes Äußere sollte uns immer mehr unwirklich werden. Wir sollten stets bedenken, daß der wahre Baum und der wahre Mensch als vollkommene Ideen im Geist (Mind) bestehen und daß Gott sie stets als solche kennt. Es muß uns allezeit klar sein, daß Gottes Werk vollendet ist; daß in Seinen Augen der Nußbaum bereits so schön ist, wie der Weidenbaum, weil Er das sieht, was unsern blöden Augen noch verborgen ist, nämlich die vollkommene, vollendete, geistige Schöpfung; daß dies auf Seine Weise, nicht auf unsre Weise, zu Seiner Zeit, nicht zu unsrer Zeit dem menschlichen Bewußtsein offenbar werden wird.
Ist es unser ernster Wunsch, daß unser Baum (unser Angehöriger) sein Problem ausarbeite, so sollten wir beiseite treten und ihm Gelegenheit dazu geben. Möglicherweise hat er nichts weiter nötig, als daß man ihn in Ruhe lasse. Wahrscheinlich haben wir gerade in diesem Punkte gefehlt; denn der sterbliche Sinn tut nichts lieber, als sich in andrer Leute Angelegenheiten zu mischen. Wollen wir nicht wenigstens eine Zeitlang beiseite treten? Unsre Selbstgerechtigkeit mag einen dunkeln Schatten auf den Baum geworfen haben, ohne daß wir uns dessen bewußt waren. Eigenliebe, welche, wie Mrs. Eddy erklärt, „undurchsichtiger” ist „als ein fester Körper” („Science and Health“, S. 242), hat schon öfters weit wichtigeren Dingen als einem Nußbaum im Lichte gestanden. Man hüte sich, die sich langsam entfaltende Idee zu drängen, denn übertriebene Ängstlichkeit hat oft eine erstickende Wirkung; vielmehr stelle man sich in den Hintergrund und lasse die Lüfte des Himmels und den warmen Sonnenschein ihr Werk vollbringen. Der Baum gehörte Gott, ehe wir ihn kennen lernten, und Gott wird gewiß für ihn sorgen.
Sei gutes Mutes, ängstlicher Gärtner! Mögen auch Wochen und Monate vergangen sein, ohne daß der Baum ein Zeichen des erwachenden inneren Lebens von sich gegeben hat: vielleicht zeigen sich schon beim nächsten Tagesanbruch die ersten zarten Knospen. Beweise mittlerweile deinem Angehörigen gegenüber wahre Liebe. Wer wahrhaft liebt, findet das rechte Wort zu rechter Zeit, weiß aber auch, wann es Zeit ist zu schweigen. Wir beweisen unsre Liebe zu unserm „Nußbaum” am besten durch geduldiges, liebevolles Warten.
Das ist die wahre Liebe, die immer und immer sich gleich bleibt,
Ob man ihr alles gewährt, ob man ihr alles versagt.