Diejenigen, welche sich dem Studium der Christian Science ernstlich hingeben, kommen bald zu der Einsicht, daß in ihrem Denken und Handeln eine Veränderung eintreten muß, wofern ihr Streben nach Vollkommenheit erfolgreich sein soll. Tatsächlich wenden sich die meisten Menschen erst dann der Christian Science zu, wenn irgendein Leiden, welches keinem materiellen Mittel weichen will, sie dazu treibt. Die Krankheit mag entweder sie oder eine ihnen teure Person befallen haben; in beiden Fällen erhalten sie den Beweis, daß Gott die Kranken jetzt ebensowohl heilen kann und ebensowohl heilt, wie zu Jesu Zeiten — ohne materielle Mittel. Sie fangen dann an, über Gott und besonders über des Menschen Beziehung zu Ihm ganz anders zu denken, und bald stellen sie die Frage, wie man sich Gott im Gebet nähern müsse. Geradezu ergreifend wirkt das Lesen der Zeugnisse derer, die lange und scheinbar erfolglos gebetet haben, bis sie endlich durch die Christian Science zu der festen Überzeugung gekommen sind, daß es ein wirksames Gebet gibt.
Manche Leute erfassen das geistige Ideal, welches Mrs. Eddy in dem Kapitel über das Gebet zu Anfang ihres Werkes „Science and Health“ dargelegt hat, ohne besondere Schwierigkeit. Andre hingegen finden diese Erklärungen schwer verständlich, und zwar deshalb, weil sie nicht mit ihren althergebrachten Anschauungen übereinstimmen. Sie übersehen die Tatsache, daß, wenn das Ergebnis dieser Anschauungen befriedigend gewesen wäre, sie sich nicht der Christian Science zugewandt hätten. Ferner muß hier darauf hingewiesen werden, daß der große Lehrer nicht viel über das Gebet sprach, bis er die falschen Begriffe, welche er vorherrschend fand, aufgedeckt hatte. So warnte er z. B. seine Zuhörer vor dem öffentlichen Beten und dem „Plappern”. Er lehrte, der Menschen Herzen müßten von Haß und Sinnlichkeit gereinigt werden und die Liebe zu Gott müsse an Stelle des Mammonsdienstes treten. Er verlangte eine volle Hingabe, damit sich das Denken fortwährend über das Materielle erheben und dem Geistigen zuwenden möge. Ferner sagte er: „Sorget nicht ... für euren Leib”, sondern „trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.”
Dies alles und weit mehr ist in der Bergpredigt zu finden (im fünften, sechsten und siebenten Kapitel des Matthäus). Hier steht ferner das Gebet des Herrn, welches, wie Mrs. Eddy erklärt, sich auf alle menschlichen Bedürfnisse erstreckt („Science and Health“, S. 16). Dem Evangelisten Lukas zufolge gab Jesus den Jüngern dieses Gebet erst, nachdem sie sich mit der Bitte an ihn gewandt hatten: „Herr, lehre uns beten”. Sie sahen offenbar nicht ein, daß jedes Wort, das er zu ihnen redete, sie auf das wahre Gebet hinwies; daß, wenn sie das richtige Verständnis vom „Ewigvater” und von der Gotteskindschaft hätten, sie es als unnötig erkennen würden, sich mit flehentlichen Bitten an Ihn zu wenden. In einem Heim, wo die richtigen Zustände herrschen, haben es die Kinder nicht nötig, ihre Eltern mit Bitten um Brot zu bestürmen; auch erhalten „die Lilien auf dem Felde” ihre Kleidung nicht durch klägliches Bitten. Daher sagte der Meister: „An demselbigen Tage [wenn dies alles verstanden wird] werdet ihr mich nichts fragen”, denn ihr werdet dann erkennen, daß der himmlische Vater alle eure Bedürfnisse befriedigt. Bis ihr aber diese Erkenntnis erlangt habt, „bittet, so werdet ihr nehmen, daß eure Freude vollkommen sei”, und wisset, daß, wenn ihr Brot nötig habt, der Vater euch keinen Stein geben wird.
Nur wenn wir das richtige Maß der Erkenntnis Gottes erlangt haben, werden wir Gott innig lieben; nur dann werden wir Ihm unsre Gesundheit, unsre Kräfte, unser Leben, ja unser Alles anvertrauen. Schon während der ersten Zeit dieses Entfaltens der Gotteserkenntnis fangen wir an so zu beten, wie Jesus betete. In seinem Gebet am Grabe des Lazarus dankte er Gott für die Erkenntnis, daß Er ihn allezeit erhöre. Ferner haben wir in dem herrlichen siebzehnten Kapitel des Evangeliums Johannes ein Gebet der Affirmation, das sich gänzlich über das Materielle erhebt und das in einem klaren Sichbewußtsein der göttlichen Segnungen besteht.
In der Bibel sind viele solche Gebete zu finden; so z. B. im dritten Kapitel des Epheserbriefes, Vers 14–21. Dieses Gebet gilt allem, „was da Kinder heißet im Himmel und auf Erden”. Es erhebt uns weit über bloße Bittgebete in das Reich der geistigen Demonstration empor, bis wir uns bewußt werden, daß wir „erfüllet” sind „mit allerlei Gottesfülle”.
Solche Gebete haben kein menschliches Muster nötig. Die Christian Scientisten beugen sich in demütiger Verehrung vor dem göttlichen Geist (Mind); sie verrichten unter göttlicher Leitung das Gebet, welches die Kranken heilt und die Sünder bekehrt. Man denke an die herrliche Verheißung: „Siehe, Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.” Können wir mehr erbitten, als die Kenntnis dieser Tatsache?