So manchen Anhängern der Christlichen Wissenschaft ist es aus verschiedenen Gründen nicht möglich, die Gottesdienste zu besuchen, die für viele eine solche Quelle der Erbauung und Ermutigung bedeuten. Oft, wenn auch vielleicht unbewußt, schleicht sich ein dem Zweifel oder der Undankbarkeit verwandtes Gefühl des Beschränktseins und des Mitleids mit sich selbst ein. Hierzu gesellt sich wohl auch die Neigung, das Entbehren der Gottesdienste als etwas Unvermeidliches anzusehen, was ein teilnahmsloses und gleichgültiges Verhalten zur Folge hat. Die Empfindung, daß einem der Gegenstand des Wunsches vorenthalten wird, verhindert oft die Würdigung und Anwendung des Vorhandenen. Wenn auch die Unmöglichkeit, die Gottesdienste zu besuchen, als ein Mangel empfunden wird, so ist die eben erwähnte Teilnahmlosigkeit doch noch beklagenswerter. Vor dieser Neigung in uns und andern wollen wir daher auf der Hut sein.
In der Christlichen Wissenschaft lernen wir erkennen, daß uns durch ein übereiltes Verlassen der Umgebung, wo uns die Wahrheit gefunden hat, nicht geholfen wird, mögen die Verhältnisse in dieser Umgebung anscheinend noch so schwierig sein. Ferner wird es uns klar, daß ein großer Unterschied besteht zwischen geduldigem und liebevollem Sichherausarbeiten aus unvollkommenen Zuständen, und widerstandslosem Sichunterwerfen unter dieselben. Wer sich widerwärtigen Umständen willenlos fügt, legt damit noch nicht Demut und Bescheidenheit an den Tag, sondern oftmals nur einen Hang zur Gleichgültigkeit. Wahre Demut und Bescheidenheit kommt dadurch zum Ausdruck, daß man sein Kreuz auf sich nimmt und sich schrittweise und geduldig aus mißlichen Verhältnissen herausarbeitet. Geduldig sein bedeutet nicht ein untätiges Warten, bis ein gewünschtes Ziel erreicht ist, sondern eine geduldige, dem Ziele stetig zustrebende Tätigkeit. Durch treue und geduldige Arbeit und durch das Vollbringen guter Werke erlangen wir den geistigen Sinn, der Heilung sowie freiere und glücklichere Zustände herbeiführt.
Viele Wissenschafter haben ihren Wohnsitz auf dem Lande oder in kleinen Ortschaften, wo keine Gottesdienste stattfinden. Manchen von ihnen ist Befreiung von körperlichen Leiden noch nicht zuteil worden. Diesem oder jenem steht das schroffe, feindselige Verhalten seiner Angehörigen scheinbar im Wege. Um nun diesen Zuständen in der besten Weise abzuhelfen, sollte man alle nur denkbaren Mittel, die uns unsre Kirche bietet, in Anspruch nehmen können. Gerade diejenigen aber, die der fördernden und heilsamen Wirkung der Gottesdienste am meisten zu bedürfen scheinen, müssen dieselben oft entbehren. In der dunkelsten Stunde jedoch, wenn die Bedrängnis ihren Höhepunkt erreicht hat, können wir einen Lichtschimmer sehen, der uns in ruhige und sichere Bahnen leitet, „denn die göttliche Liebe gibt der ganzen Menschheit und zu jeder Zeit alles Gute” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 494).
Nur zu oft tritt die Versuchung an uns heran, das Vorhandene mit seinen scheinbaren Beschränkungen zu vernachlässigen und unsre Erwartung des Guten auf künftige Zeiten zu verlegen. Das Gute gilt jedoch schon für heute, es ist allgegenwärtig, und wir werden früher oder später erkennen, daß wir durch gewissenhafte Ausnutzung der geringsten Gelegenheit, die sich uns bietet, unserm Begriff vom Guten zu vollerer Entfaltung verhelfen, wodurch wir dann in wissenschaftlicher Weise zu größerer Freiheit gelangen. Wir tun wohl daran, uns des öfteren die Frage vorzulegen, die Mrs. Eddy in Wissenschaft und Gesundheit (S. 3) stellt: „Sind wir wirklich dankbar für das schon empfangene Gute? Dann werden wir uns die Segnungen, die wir haben, zunutze machen, und dadurch geschickt werden, mehr zu empfangen.”
Wer das Studium der Lektionspredigten regelmäßig betreibt, wird stets viel Gutes empfangen, denn er kommt mit dem erhöhten Denken in Verbindung, das durch dieses weitverbreitete Bibelstudium erzeugt wird. Wenn wir empfänglichen Gemüts in den Geist der Lektion eindringen, werden wir, ob weit entfernt oder in der Nähe, „zu feinen Vorhöfen mit Loben” eingehen. Wir erkennen in der Christlichen Wissenschaft, daß die wahre Kirche ein geistiger, nicht ein materieller Vau ist, und daß wir nicht nur dann wahre Gemeinschaft mit ihren Mitgliedern halten können, wenn wir in ihrer Mitte weilen, sondern auch, wenn wir räumlich völlig von ihnen getrennt sind, solange wir im Bewußtsein der Wahrheit und Liebe verbleiben. Indem wir das reine und geistige Wesen der Kinder Gottes zu erkennen trachten und uns vergegenwärtigen, daß sie von demselben Lebenszweck durchdrungen und im Bewußtsein von Gottes Allgegenwart leben, wird auch uns allmählich das Schöne und Dienliche des Gottesdienstes klar.
Ist es uns auch nicht möglich, die Mittwochabend-Versammlungen zu besuchen, so können wir doch unsre Scherflein in unser mentales Vorratshaus tragen. Wir können ehrlichen Herzens die vergangene Woche überblicken und der Demonstrationen gedenken, die, so gering sie auch dem materiellen Sinn erscheinen mögen, zum Beweis dafür dienen, daß unser wachsendes Verständnis vom Prinzip ein praktisch wirksamer Faktor in unserm täglichen Leben ist. Dies ermutigt uns, noch nach Höherem zu streben. Wenn wir dann einem andern mit einigen wenigen von Herzen kommenden Worten oder einigen liebevollen Zeilen Gutes zu tun bestrebt sind, nehmen wir Teil an dem heiligen Dienste und werden den Segen des Vaters empfangen, „der in das Verborgene siehet”. Demjenigen, der sich beständig die geistige Idee vom Gottesdienst zu vergegenwärtigen sucht, wird sich eine freiere Bahn öffnen. Durch standhaftes Festhalten an dem Gedanken, daß der Mensch in der Kraft Gottes irgendwelchen Schwierigkeiten gewachsen ist, sowie durch Treue im Kleinen haben so manche, die in abgelegenen Orten wohnen, erfahren, daß es durch die Anziehungskraft der Liebe und Wahrheit mit der Zeit zur Abhaltung von Gottesdiensten kam, wodurch ein weitreichender und sich stets erweiternder Wirkungskreis des Guten entstand.
