Die Anhänger der Christlichen Wissenschaft kommen oft in die Lage, eine allgemein verbreitete aber irrige Ansicht über die Lehren der Christlichen Wissenschaft widerlegen zu müssen, nämlich hinsichtlich der Stellung, die diese Lehren Christus Jesus als einem Erlöser einräumen. Daß die Christlichen Wissenschafter an ihn glauben, wird durch ihre Werke bestätigt; sie geben aber gerne zu, daß sie das fleischliche Element nicht verehren, selbst nicht dasjenige des Menschen Jesus. Nach dessen eignen Worten ist es „der Geist ..., der da lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze.”
Im vierten Buch Mose lesen wir, daß Moses in der Wüste, als die Kinder Israel von Schlangen gebissen wurden, eine eherne Schlange machte und sie zum Zeichen aufrichtete; „und wenn jemanden eine Schlange biß, so sah er die eherne Schlange an, und blieb leben.” Wir erfahren jedoch weiterhin, daß zur Zeit, da Hiskia König über Juda wurde, er die eherne Schlange, die Moses gemacht hatte, zerstieß, „denn bis zu der Zeit hatten ihr die Kinder Israel geräuchert, und man hieß sie Nehusthan” [ein Stück Erz]. Christus Jesus wies auf diese eherne Schlange als auf eine bildliche Darstellung des menschlichen Ichbegriffs hin und sagte: „Wie Moses in der Wüste eine Schlange erhöhet hat, also muß des Menschen Sohn erhöhet werden, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.” Die Zeit ist gekommen, da der Glaube an das Fleischliche der göttlichen Idee weichen muß, genau wie die eherne Schlange von Hiskia zerstoßen wurde. Der Leib Jesu am Kreuz war nur Fleisch und Blut, doch stellte er sinnbildlich das Lamm dar, „das erwürget ist, von Anfang der Welt.”
Als Jesus gekreuzigt wurde, zerriß der Vorhang im Tempel „in zwei Stücke, von oben an bis unten aus”, und das Allerheiligste (das nur der Hohepriester betreten durfte) wurde sichtbar, der Welt gleichsam die Gegenwart Gottes offenbarend. Der Verfasser des Briefes an die Ebräer weist mit folgenden Worten deutlich darauf hin, daß der Vorhang Jesu Fleisch versinnbildlicht: „So wir denn nun haben, lieben Brüder, die Freudigkeit zum Eingang in das Heilige durch das Blut Jesu, welchen er uns bereitet hat zum neuen und lebendigen Wege durch den Vorhang, das ist, durch sein Fleisch, ... so lasset uns hinzugehen mit wahrhaftigem Herzen in völligem Glauben”. Durch das Zerreißen des Vorhangs des Fleisches, d. h. durch Vernichtung der Annahme, daß dem Fleisch als solchem Leben innewohne, durch Jesu Überwindung des Todes und durch seine Auferstehung vom Grabe wurde der Weg der Erlösung gebahnt oder der Eintritt in das Allerheiligste ermöglicht. Die Menschheit wurde also durch diese Tat sozusagen vor das Angesicht des Geistes gestellt, des einzigen Lebens oder der einzigen Macht, und damals, zu dieser heiligsten Stunde in der Geschichte, wurde „das Licht der Welt” offenbar, „der Weg” sichtbar, „die Wahrheit” demonstriert; ja noch mehr — die Schönheit der göttlichen Liebe wurde entfaltet.
Da aber „Fleisch und Blut nicht können das Reich Gottes ererben”, hat der Glaube an Jesu menschliche Persönlichkeit als an eine lebendige Kraft zur Erlösung der Menschen die wahre Bedeutung des Christus lange verdunkelt. Doch bleibt die Erfüllung der Prophezeiung Jesajas nicht aus, daß „er wird ... die Hülle wegtun, damit alle Völker verhüllet sind”, d. h. den körperlichen und sterblichen Begriff vom Menschen. Niemand, der Mrs. Eddys Schriften gründlich studiert hat, wird leugnen können, daß durch ihre Lehren die Erfüllung dieser Prophezeiung beschleunigt wird. Die göttliche Idee mag durch das Fleisch zum Ausdruck gebracht werden, aber es geschieht eher ungeachtet des Fleisches als durch dasselbe, wie ja auch das Sonnenlicht durch eine trübe Scheibe dringt, obschon es noch heller scheint, wenn die Scheibe klar ist oder gänzlich fehlt. „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort, dann aber von Angesicht zu Angesichte”, sagt Paulus. Gott ist nie im Fleisch oder in der Materie, auch brauchte Er sich nicht einer mit Kraft ausgestatteten menschlichen Form als Werkzeug zu bedienen; die Sterblichen konnten jedoch die geistige Idee nicht erkennen; daher ihre Blindheit hinsichtlich der wahren Mission des Heilands. Die Christlichen Wissenschafter haben weder einen materiellen Gott, noch einen Gott, der der Urheber der Materialität ist, sondern sie streben danach, mit Paulus sagen zu können: „Darum von nun an kennen wir niemand nach dem Fleisch; und ob wir auch Christum gekannt haben nach dem Fleisch, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr.” Zugleich aber stimmen sie mit andern Nachfolgern des Christus in den erhabenen Ausruf der Jungfrau-Mutter ein: „Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes.”
Eine andre Frage, die dem Christlichen Wissenschafter gewöhnlich von sogenannten Strenggläubigen gestellt wird, lautet: „Wie steht es aber mit der Versöhnung?” Die Antwort hierauf ist, daß wir an die Versöhnung durch Christus glauben, an das Einssein des geistigen Menschen mit Gott, dem Geist, seinem Schöpfer. Mrs. Eddy definiert Christus als „die göttliche Offenbarwerdung Gottes, die zum Fleisch kommt, um den fleischgewordenen Irrtum zu zerstören” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 583). Der Mensch, der zum Bilde Gottes geschaffen wurde, ist mit seinem Schöpfer stets eins gewesen; aber wir müssen diese Tatsache beweisen, wenn wir der Erlösung teilhaftig werden wollen. Der Christus erklärt: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. So jemand meine Stimme hören wird, und die Tür auftun, zu dem werde ich eingehen, und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.” Diese Tür oder Schranke, die unsrerseits willig geöffnet werden muß, ist der fleischliche Sinn, der da glaubt, daß der fleischliche Körper, daß etwas von Geist Getrenntes den Menschen darstelle. Wenn diese Tür aufgetan wird, so wird bewiesen, was von Anbeginn wahr gewesen ist, nämlich des Menschen Einssein mit Gott. Das Schaffen um das Seligwerden hat begonnen. Dann wird auch die in den Worten des Paulus enthaltene Wahrheit verstanden: „So aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen, der Geist aber ist Leben um der Gerechtigkeit willen.” Christus Jesus ist unsre Versöhnung dadurch, daß er als der von Gott Gesandte die Kraft der Wahrheit für die ganze Menschheit bewies; doch verrichtete er nicht die uns zufallende Arbeit.
Alle Christen erklären, daß sie Christus als ihren Erlöser anerkennen, und sie trachten danach, der Person Jesu zu gleichen, indem sie ihr Denken zu läutern bestrebt sind. Und dies ist gewiß recht. Vielen ist aber entgangen, daß Sterblichkeit in die Unsterblichkeit verschlungen werden muß. Wir müssen gesinnet sein, wie Christus Jesus auch war. Er hatte Gewalt über seinen Körper, er vermochte auf den Wassern zu wandeln und seinen Körper aufzuerwecken, nachdem das Übel durch Kreuzigung desselben sein möglichstes getan hatte. So gehen die Christlichen Wissenschafter umher und predigen das ganze Evangelium — die frohe Botschaft der Erlösung von Krankheit wie von Sünde. Es gibt jedoch heutigestags Menschen, wie sie schon Jesaja fand, von denen Jesus mit den Worten dieses Propheten sagte: „Dieses Volkes Herz ist verstockt, und ihre Ohren hören übel, und ihre Augen schlummern, auf daß sie nicht dermaleins mit den Augen sehen, und mit den Ohren hören, und mit dem Herzen verstehen, und sich bekehren, daß ich [göttliche Wahrheit] ihnen hülfe.” Die Christus-Botschaft ist das von Gott der Welt gesandte Wort, von dem es heißt: „Es soll nicht wieder zu mir leer kommen, sondern tun, das mir gefällt, und soll ihm gelingen, dazu ich's sende.”
Der Blinde sitzt im stillen Tal
Und atmet Frühlingsluft,
Ihm bringt ein Hauch mit einemmal
Des ersten Veilchens Duft.
Um es zu pflücken steht er auf,
Sucht bis die Nacht sich naht,
Und ahnt nicht, daß in irrem Lauf
Sein Fuß es längst zertrat.
