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Umgebung

Aus der Dezember 1914-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Zwei Freundinnen pflückten an einem Sommernachmittag Seerosen. Die eine hatte sich schon längere Zeit mit der Christlichen Wissenschaft befaßt, der andern erschien ihre eigne, kurz zuvor erlebte Heilung noch wie ein Wunder. Da sie einander jahrelang nicht gesehen hatten, gab es viel zu erzählen. Sie hatten es daher mit dem Nachhausegehen nicht eilig, sondern ließen ihren kleinen Kahn im kühlen Schatten der weidenbehangenen Ufer ruhig dahingleiten und sprachen über den einen Gegenstand, der immer herrlicher wird, je mehr man sich in ihn vertieft.

Mit einem Male wich der frohe Ausdruck aus dem Gesicht der jüngeren Freundin, und es war zu sehen, daß trotz des Segens der Gesundheit, dessen sie teilhaftig geworden war, ihr noch manches Schwierigkeiten bereitete. „Ich möchte vorwärtskommen”, sagte sie, „ich möchte eine gute Christliche Wissenschafterin werden, möchte der Ortskirche und Der Mutter-Kirche beitreten, möchte andre heilen können und so fort. Wie kann ich aber in meiner jetzigen Lage erwarten, jemals etwas zu erreichen. Du kennst die Verhältnisse zu Hause und hast jedenfalls bemerkt, wie ablehnend sich Mutter verhält. Vater lacht immer nur, und die andern verhalten sich ganz teilnahmslos. Ich dachte, durch meine Heilung würden sie sich alle gleich für die Christliche Wissenschaft interessieren. Sie freuen sich natürlich, daß ich gesund bin, und geben zu, daß die Wissenschaft dies vollbracht hat, doch haben sie anscheinend gar keinen Wunsch, der Sache näherzutreten. Und je mehr ich davon rede, desto weniger ist mit ihnen anzufangen. Was kann ich unter so vielen ganz allein ausrichten?

„Ich verliere ganz und gar den Mut”, lauteten die Einwürfe des sterblichen Gemüts weiter. „Wenn ich nur in einer andern Umgebung wäre, würde ich schneller vorwärtskommen. Was nützt es mir aber, vorwärtskommen oder geistig zunehmen zu wollen, wenn alles wider mich zu sein scheint? Wie kann ich in meiner gegenwärtigen Lage erwarten, je etwas zu erreichen?”

Die andre schwieg noch immer. Sie schien die Blume zu betrachten, die sie in der Hand hielt, sah aber nur das unglückliche Gesicht neben ihr mit den von heißen Tränen des Unwillens benetzten Wangen. „Lieber Vater”, betete sie, „zeige mir, wie ich ihr am besten helfen kann. Du weißt es, und ich höre auf dich.” Aus eigner Erfahrung wußte sie, daß ihre Freundin sich in einem Stadium des menschlichen Fortschritts befand, das die größte Vorsicht seitens dessen erheischt, der helfen will; daß dieses Stadium gewöhnlich von denen erreicht wird, die sich eben erst der Christlichen Wissenschaft zugewandt haben lind deren empfindliches, wie eine zarte Blüte sich entfaltendes Denken leicht verletzt, verwirrt und durch Entmutigung verdüstert wird.

„Du unendliche Liebe”, betete sie still, „die Du die Lämmer in Deinem Busen trägst, zeige mir, was ich reden soll. Ich weiß, daß das Christus-Bewußtsein gegenwärtig ist und daß ich dessen teilhaftig bin. Hilf mir erkennen, daß ich dieses Schäflein Deiner Herde heilen kann.” Ein Windhauch kräuselte die Oberfläche des Wassers, und von ihm getragen kam der Duft der Seerose, die sie in den Händen hielt. Als sie in ihre goldene Tiefe sah, ward ihr Gebet erhört.

„Ich möchte dir eine Geschichte erzählen”, sagte sie zur Freundin. „Eben sann ich über diese Seerose nach. Ich dachte an die Zeit, da sie schlafend am Grunde des Sees lag. Sich hinab ins Wasser. Wie sieht es da aus?”

„Häßlich. Ich sehe nichts als Schlamm, Wasserpflanzen und kriechendes Getier.”

„Ganz richtig. Da unten aber befand sich die Seerose. Ihre Umgebung war also nicht geeignet, ihr Mut einzuflößen. Sie wachte eines Tages auf und sah das Licht hoch über ihrem Haupte auf der Wasserfläche scheinen. Sie wollte in den Sonnenschein hinaus, wo die kleinen Wellen tanzten und wo alles Schönheit und Freude atmete. Was konnte sie aber in ihrer Lage tun? Was nützte es ihr eine Seerose werden zu wollen, wenn sich dem alles zu widersetzen schien? Dennoch aber wohnte ihr jene göttlich verliehene Fähigkeit inne, die ihr sagte, daß die sie regierende Macht größer sei als irgendwelche Umgebung. Sie wußte, daß sie ein Recht hatte, eine Seerose zu sein, weil Gott ihr dieses Recht gegeben, und daß es nichts auf dem Grunde dieses Sees noch sonstwo in der ganzen Welt gab, was sie davon abhalten könnte. Somit dachte sie nicht mehr an die Dinge, von denen sie umringt zu sein schien, sondern fing an, sich zu freuen. Sie sann über all die wunderbaren Dinge nach, die sie eines Tages sehen würde, die kräuselnden Wellen, den Himmel, die Sonne, und wie sie selbst, gleich einem Stern auf der Oberfläche des Wassers schwimmend, durch ihre Reinheit, Schönheit und den ihr entströmenden Duft einen jeden beglücken sollte, der in ihre Nähe kommen würde. An zwei entgegengesetzte Dinge konnte sie nicht zugleich denken. Je mehr sie also über die ebenerwähnten Dinge nachsann, desto weniger machten ihr die andern Sorge, und nach einiger Zeit blieb die Seerose von ihrer Umgebung unberührt; es blieb sich für sie ganz gleich, wie es um sie her aussah.

„Die Seerose brauchte ihre Umgebung nicht zu ändern. Sie brauchte aus derselben nicht herausgenommen zu werden. Sie gab sich nicht dem Selbstbedauern hin, weil sie da bleiben mußte, sie sagte nicht: Ich will warten, bis der Schlamm trocknet, das Seegras sich entschlingt und alles Getier davongekrochen ist; dann werde ich anfangen, eine Seerose zu sein. Sie fing genau da an, wo sie war, und fuhr ruhig fort zu wachsen — davon konnte sie eben nichts abhalten —, bis sie sich eines Tages draußen im Sonnenschein befand, ihre nassen Blätter schüttelte und vor Freude lachte. Hier ist sie in meiner Hand. Ist es nicht wunderbar, daß etwas, was, wie die Welt sagen würde, aus so schlechten Anfängen heraus sich entwickeln mußte, so schön werden konnte? Gottes Güte aber ist unermeßlich. Selbst als sich die Seerose auf dem Grunde des Sees wähnte, befand sie sich gar nicht da, sondern lag immerdar geborgen in den Armen der beschützenden Macht Gottes, umwoben von göttlicher Liebe. Bedenke doch, wenn Gott alles ist und sich überall bekundet, wie hätte es dann für etwas andres je Raum geben können?”

Es trat ein kurzes Schweigen ein, dann nahm die andre die Ruder zur Hand und sagte in weichem Tone: „Wir wollen nach Hause gehen. Mein Wachstum soll jetzt beginnen.”

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