Vor einigen Tagen wurde ich auf einen „Brief aus Berlin” in „De Fakkel“ vom 20. Februar aufmerksam gemacht, dessen Inhalt mich in Erstaunen setzte. Ihr Berichterstatter beginnt mit der Versicherung, daß er „wirklich nichts gegen die Christliche Wissenschaft” habe, fährt dann aber in so eigentümlicher Weise fort, daß ich mich fragen mußte, wie wohl der Aufsatz ausgefallen wäre, wenn er etwas gegen diese Lehre gehabt hätte. Ich glaube, Ihre Leser dürfen sich freuen, daß ihnen sein Tadel erspart geblieben ist!
Mir wäre es unbegreiflich, wie jemand „nichts gegen die Christliche Wissenschaft” haben könnte, wenn das, was Ihr Korrespondent darüber berichtet, der Wahrheit entspräche. Zum Glück sind die Christlichen Wissenschafter im allgemeinen zu vernünftig, um sich zu einem so törichten Glauben zu bekennen, wie er ihn beschreibt, oder so unklug zu handeln, wie er behauptet. Er hat entweder alles geglaubt, was ihm andre erzählt haben, ohne sich zu vergewissern, ob diese Leute auch gut unterrichtet sind, oder er hat die Sache selbst untersuchen wollen und ist auf die falsche Fährte geraten.
Er schreibt, er möchte fast wünschen, „die Christlichen Wissenschafter würden sich dazu entschließen, in Übereinstimmung mit den aus ihren Lehren gezogenen logischen Folgerungen zu leben.” Meines Wissens suchen die Anhänger der Christlichen Wissenschaft tatsächlich diese Lehre in vernunftgemäßer Weise anzuwenden, weil sie dadurch einen dauernden Segen empfangen. Wir nehmen daher seinen Rat gerne an, möchten jedoch bitten, darauf hinweisen zu dürfen, daß von keinem Schüler einer Wissenschaft die sofortige Lösung ihrer sämtlichen Probleme gefordert wird. Andauerndes Studium, die Anwendung dessen, was man verstehen gelernt hat, und die Lösung der sich einem bietenden Aufgaben führen zu mehr Verständnis, wodurch man befähigt wird, sich an andre Aufgaben zu machen; und so muß man auch in der Christlichen Wissenschaft Verfahren. Ein Schüler der Elementarklasse sieht sich mit seiner Arbeit nicht dem Tadel der Vernunftwidrigkeit ausgesetzt, weil er die Probleme nicht lösen kann, die auf der Universität ausgearbeitet werden. Der Umstand, daß ein Christlicher Wissenschafter die Höhe der Demonstration Jesu, unsres Wegweisers, bezüglich der Wissenschaft des Seins noch nicht erreicht hat, kann ihm unmöglich zum Vorwurf gereichen.
Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß das Leben ewig, unvergänglich, vollkommen, unaufhörlich, geistig ist, ja, daß das Leben Gott selbst ist. Das wachsende Bewußtsein dieser Tatsache erweckt uns aus der Illusion der sterblichen, materiellen Existenz, die wir dann als eine im falschen Denken, im falschen Bewußtsein entstehende falsche Annahme oder Vorstellung erkennen lernen. Das Ziel der Christlichen Wissenschaft ist nicht, das sterbliche, materielle Leben, das falsche Bewußtsein zu verlängern, sondern es besteht im Ablegen alles Unwahren, Zeitlichen und Bösen und im allmählichen Sichbewußtwerden des Lebens, das über materiellen Phänomenen und Beschränkungen steht, weil es der Ausdruck des Ewigen ist, des Prinzips, Gottes. Und dieses Bewußtsein ist gleichbedeutend mit Gesundheit und Heiligkeit. Zerstörende Elemente können in der ewigen Wirklichkeit nicht bestehen, und da Jesus Sünde, Krankheit und Tod im Gehorsam gegen den Schöpfer aufhob, so ist es doch wohl wissenschaftlicher, das Böse als eine falsche Annahme denn als eine Wirklichkeit anzusehen. Die Christliche Wissenschaft vertritt diese Anschauung und zeigt, wie man dem Bösen entgehen kann.
Nur was in Gott besteht und daher einen Teil Seines Wesens bildet, kann aus Ihm, der großen Ursache, hervorgehen, und aus diesem Grunde fühlen sich die Christlichen Wissenschafter zu der Folgerung berechtigt, daß die Lösung der volkswirtschaftlichen sowie aller sonstigen Fragen nur durch Gehorsam gegen den Willen Gottes erreicht werden kann, der, wie Paulus schreibt, verordnet hat, daß der Mensch dem „Ebenbilde seines Sohns” gleich sei, „auf daß derselbige der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern.” Ein Mensch, der sich seines geistigen Seins als eines Ausdrucks Gottes besser bewußt worden und darum weniger „von der Erde und irdisch” ist, wird eher in der Lage sein vorherzusagen, wie sich das Dasein gestalten wird, wenn die Menschen die Christliche Wissenschaft einmal allgemein annehmen und durch ihr Leben zum Ausdruck bringen werden. Mrs. Eddys Ansicht hierüber finden wir auf Seite 340 von Wissenschaft und Gesundheit, wo es heißt: „Das göttliche Prinzip des ersten Gebots ist die Basis der Wissenschaft des Seins, durch die der Mensch Gesundheit, Heiligkeit und ewiges Leben demonstriert. Der eine unendliche Gott, das Gute, vereinigt Menschen und Völker; richtet die Brüderschaft der Menschen auf; beendet die Kriege; erfüllt die Schriftstelle: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst‘; vernichtet heidnische und christliche Abgötterei — alles, was in sozialen, bürgerlichen, kriminalen, politischen und religiösen Gesetzen verkehrt ist; stellt die Geschlechter gleich; hebt den Fluch auf, der auf dem Menschen liegt, und läßt nichts übrig, was sündigen, leiden, was bestraft oder zerstört werden kann.”
Der Grund, weshalb die christlich-wissenschaftliche Bewegung so sehr wächst, liegt in der Hilfe, die so viele Schüler dieser Lehre in allen Lebenslagen durch sie gefunden haben. Der Zweck der Christlichen Wissenschaft ist jedoch nicht, den ausübenden Vertretern einen Lebensunterhalt zu sichern, sondern jedermann zu lehren, wie er sich selber helfen kann. Um mit Mrs. Eddy zu reden: „Wenn die Wissenschaft des Seins allgemein verstanden wird, dann wird jeder Mensch sein eigner Arzt, und Wahrheit das allgemeine Heilmittel der Welt sein” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 144).
Ich habe Erkundigungen eingezogen über die Fälle, von denen Sie in Ihrem Blatt berichten, wonach der Christlichen Wissenschaft der Tod zweier deutscher Schauspielerinnen zur Last gelegt wird. Ich habe erfahren, daß Frau Nuscha Butze schon seit Jahren an der Zuckerkrankheit gelitten hatte und während der ganzen Zeit unter ärztlicher Aufsicht stand. Als sich im letzten Sommer ihr Zustand bedeutend verschlimmerte, wandte sie sich der Christlichen Wissenschaft zu, fand aber leider keine dauernde Hilfe, obschon anfangs eine bemerkenswerte Besserung eintrat. Die Christliche Wissenschafterin, die ihr Beistand leistete, hat sie nicht veranlaßt, auf der Bühne zu erscheinen; im Gegenteil, sie warnte Frau Nuscha Butze davor, ein Gefühl des Stolzes oder Eigenwillens hier mitreden zu lassen.
Die zweite Schauspielerin war von Mai bis Oktober 1913 von sieben verschiedenen Ärzten nach allen möglichen Methoden behandelt worden. Der Ausspruch der Ärzte gab ihr so wenig Hoffnung, daß sie anderwärts Hilfe suchte. Nachdem sie zwei Monate lang im Sinne der Christlichen Wissenschaft Beistand erhalten hatte, nahmen sie ihre Angehörigen nach einem katholischen Sanatorium, da sie fürchteten, sie würde ihre Religion ändern und Mitglied einer evangelischen Kirche (nicht der Christian Science Kirche) werden. Dort starb sie, nachdem sie zwei Monate lang ausschließlich in ärztlicher Behandlung gewesen war. Ist es unter solchen Umständen vernünftig und gerecht, der Christlichen Wissenschaft die Schuld beizumessen?
Die Beschreibung einer christlich-wissenschaftlichen Versammlung endlich, die Ihr Berichterstatter gibt, weicht gänzlich von denen ab, die ich besucht habe. Nirgends sah ich gedruckte Listen mit Adressen nebst Preisangabe für Beistand. Ich weiß ganz bestimmt, daß weder in Berlin noch sonstwo bei christlich-wissenschaftlichen Gottesdiensten solche Listen verteilt werden. Da auch die Stunden, die Ihr Korrespondent angibt, von denen der hier abgehaltenen Gottesdienste der Christlichen Wissenschaft abweichen, so liegt die Vermutung nahe, daß er vielleicht eine andre Versammlung besucht hat, in der Meinung, er befinde sich unter Christlichen Wissenschaftern.
