Was man auch immer für oder gegen die Anwendung materieller Arzneimittel sagen mag, die Erkenntnis, daß Geist die alleinige Ursache ist, weist bestimmt darauf hin, daß nur durch absolut geistige Betätigung das göttliche Gesetz erfüllt wird. Wenn wir uns in unsrer Unwissenheit teilweise auf das Materielle verlassen, so müssen wir einsehen lernen, daß die Wissenschaft des Christentums ein volles Vertrauen auf Gott, Geist, die einzige Substanz verlangt. Die endgültige Demonstration dieser Tatsache im Leben eines Menschen ist der Höhepunkt des Christentums.
Gewisse Bibelforscher haben die Meinung vertreten, daß die Bibel die Ausübung der Medizin gutheiße. Sie sagen, wenn Paulus im Kolosserbrief Lukas als den „Arzt”, den „Geliebten” erwähnt, so bedeute das eine Anerkennung des ärztlichen Berufes. Unsres Erachtens ist das eine gezwungene Auslegung. Paulus’ Ausdrucksweise scheint eher seine freundliche, duldsame Haltung, gegenüber einem Beruf zu beweisen, über den er selbst hinausgewachsen war. Die Ausübung der Christlichen Wissenschaft stimmt mit der Verfahrungsart des Paulus überein und steht im Einklang mit des Meisters Worten: „Ich bin nicht gekommen auszulösen, sondern zu erfüllen.” Es ist nicht die Aufgabe der Christlichen Wissenschaft, Einrichtungen in der Welt, die den erhabenen Forderungen der absoluten Christlichkeit nicht zu entsprechen vermögen, anzugreifen und die Leute zu verdammen, die solche Einrichtungen unterhalten. Vielmehr will sie in aller Stille und ohne Anstoß zu erregen ihren Wert durch gute Werke beweisen und dadurch ihre Aufnahme in das Leben der Menschen verdienen.
Man hat es ferner als eine Empfehlung der Medizin betrachtet, daß unser Meister den Ausdruck Arzt brauchte, als er sagte: „Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.” Es liegt jedoch klar auf der Hand, daß Jesus das Wort Arzt an dieser Stelle im bildlichen Sinne anwandte, und daß er von den geistigen Wohltaten sprach, die er verlieh und die seinen körperlichen Heilungen zugrunde lagen. Der Meister betätigte das, was er lehrte. Bei allem, was er tat, bekräftigte er sein unbedingtes Vertrauen auf den Vater; auch empfahl er nie ein materielles Heilmittel, soweit bekannt ist. Liegt es nicht auf der Hand, daß er bei obigem Ausspruch an den Arzt dachte, der geistig heilt?
In einem Falle „spützte er auf die Erde und machte einen Kot aus dem Speichel und schmierte den Kot auf des Blinden Augen.” Es scheint aber nicht, daß dieses Verfahren irgend etwas mit der Heilung zu tun hatte; denn der Blinde wurde erst dann „sehend”, als er des Meisters Gebot befolgt und den Kot weggewaschen hatte. Auf ein Ding zu speien galt von jeher als ein Zeichen der größten Verachtung für dasselbe. Da der Meister behauptete, das Fleisch, d. h. die Materie, sei nichts nütze, und da er durch zahllose Beispiele bewies, daß er augenblicklich heilen konnte, ohne irgendwelche materielle Mittel anzuwenden, so scheint die einzig richtige Erklärung seiner Handlungsweise in dem vorliegenden Falle die zu sein, daß er seine Geringschätzung der Materie ausdrücken und zugleich zeigen wollte, daß man sich über die materiellen Zustände, Gesetze und Bräuche erheben muß, wofern man harmonische Zustände herbeiführen will.
Zuerst spie er auf die Erde und wies damit der Materie den Platz an, der ihr als einem mehr verabscheuungswürdigen als achtbaren Ding gebührt. Es war dies eine Vorbereitung auf den nächsten wichtigen Schritt, nämlich das Abwaschen der Materie, ihre völlige Beseitigung. Jedenfalls lesen wir in keinem medizinischen Werk, daß die Anwendung von Erde oder Speichel sich als Heilmittel gegen Blindheit eingebürgert hätte. Das wäre aber gewiß erfolgt, wenn feuchte Erde in göttlich verordneter Beziehung zur Heilung von körperlicher Blindheit stünde. Selbst diejenigen empfehlen dieses angebliche Heilmittel nicht, die auf die vorliegende biblische Erzählung hinweisen, um mit Jesu Verfahren den Gebrauch von Arzneimitteln zu rechtfertigen.
Es ist auch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter erwähnt worden, wo Jesus von Öl und Wein spricht. Der Meister war gewohnt, in Bildern zu reden, die im Einklang mit den Zuständen und Gebräuchen seiner Zeit standen und daher leicht verstanden wurden. Im Glossarium zu Wissenschaft und Gesundheit gibt uns Mrs. Eddy die geistige Bedeutung von Öl und Wein. Öl bestimmt sie als „Heiligung; Nächstenliebe; Milde; Gebet; himmlische Inspiration” (S. 592). Es ist doch klar, daß die Erwähnung von Öl und Wein in dem von Jesus gebrauchten Bilde nicht den Zweck hatte, diese Flüssigkeiten als Arzneimittel für Wunden zu empfehlen. Der Samariter bewies seine Barmherzigkeit, indem er nach bestem Wissen für den Verwundeten sorgte, statt an ihm vorüberzugehen. Jesus würde ihn mit geistigen Mitteln geheilt haben. Er, der zur vollkommensten Zufriedenheit bewiesen hatte, daß unbedingtes Vertrauen auf Geist, Gott, das nächstliegende und wirksamste Heilmittel für jede Art menschlicher Bedrängnis ist, schob gewiß nicht sein gewohntes Verfahren beiseite, um ein weniger wirksames Mittel zu empfehlen.
Gewisse Kritiker, die am Gebrauch materieller Medizin festhalten, sagen uns, Gott habe doch Hiskia mit einem „Pflaster von Feigen” geheilt. Nun ist aber in den Worten, die dem Propheten Jesaja anzeigten, das Hiskias Gebet erhört worden sei und daß er noch fünfzehn Jahre leben werde, nicht von einem Pflaster von Feigen die Rede. Die Bibel erklärt, der Herr habe zu Hiskia gesagt, Er wolle ihn heilen und sein Leben um fünfzehn Jahre verlängern. Das Pflaster von Feigen hingegen empfahl nicht der Herr, sondern Jesaja. Es ist daher viel vernünftiger anzunehmen, daß trotz des Pflasters von Feigen Hiskias Gebet erhört und er wiederhergestellt worden sei, als anzunehmen, der Herr habe zur Heilung Feigen nötig gehabt und angewendet. Zudem ist man zu der Behauptung berechtigt, daß ein Pflaster von Feigen auch heute noch diese Wirkung haben würde, wenn Feigen an sich Heilkraft besäßen und vor alters eine so wundervolle Wirkung gehabt hätten. Die Propheten verließen sich auf Gott, soweit sie Ihn erkannten, und ihre Werke lassen erkennen, daß dieses Gottvertrauen höchst wirksam war, obwohl sie das rein geistige Bewußtsein, das Jesus besaß, nicht erreicht hatten.
In unsrer Zeit sind viele Menschen durch ihr Vertrauen zu Gott wiederhergestellt worden, trotzdem sie materielle Mittel gebrauchten, um diesen Zweck zu erreichen. Es ist dem Schreiber nicht bekannt, daß Pflaster von Feigen in den Laboratorien moderner Ärzte zu finden wären, auch werden solche Pflaster nicht zur Heilung von Geschwüren empfohlen. Wenn wir glauben, daß das Auflegen eines Pflasters von Feigen vor alters einem göttlichen Gesetz entsprach, und finden dann, daß es heutzutage nicht heilt, so muß entweder die Feige ihre Heilkraft verloren haben, oder aber hat etwas ganz andres als ein Pflaster von Feigen den Hiskia geheilt. Vom materiellen Standpunkt aus sind das schwierige Fragen; aber sie werden klar gemacht durch die Lehre der Christlichen Wissenschaft, daß alle Verursachung mental ist. Welche Veränderungen auch im körperlichen Zustand eines Menschen vor sich gegangen sein mögen, sie sind zurückzuführen auf die Tatsache, daß das angewandte Verfahren in irgendeiner Weise eine Veränderung des mentalen Zustandes bewirkt hat. Daraus erklärt es sich, daß früher heiße Umschläge ebenso wirksam gegen das Fieber waren als später kalte Umschläge, daß eine neue hoffnungeinflößende Medizin scheinbar wohltuend wirkt, während eine Arznei, von der man weiß, daß sie versagt hat, weniger wirksam ist. Die Christliche Wissenschaft beweist die Tatsache, daß eine bloße Veränderung im Bewußtsein keine wirkliche Heilung ist. Mrs. Eddy hat in richtiger Weise jede Krankheit als Irrtum bezeichnet, den die Wahrheit allein zerstören kann.
„Und Asa ward krank an seinen Füßen im neun und dreißigsten Jahr seines Königreichs, und seine Krankheit nahm sehr zu; und suchte auch in seiner Krankheit den Herrn nicht, sondern die Ärzte. Also entschlief Asa mit seinen Vätern und starb im ein und vierzigsten Jahr seines Königreichs.” So sagt die Bibel. Die Folgerung ist, daß Asa damals nicht gestorben wäre, wenn er sich auf den Herrn anstatt auf den sterblichen Menschen verlassen hätte. Im Neuen Testament lesen wir, daß Jesus ein Weib heilte, „die all ihr Gut an die Ärzte gewendet” hatte, „und half sie nichts, sondern vielmehr ward es ärger mit ihr.” Hätte Jesus besondere Hochachtung vor der medizinischen Praxis gehabt, so hätte er sich wohl geweigert, dieser Unheilbaren zu helfen, um nicht die Ausübung der Medizin in Mißkredit zu bringen. Er kannte und gebrauchte ein besseres Heilverfahren und hinterließ uns die Ermahnung, seinem Beispiel zu folgen.
Zieht man die fortwährenden Veränderungen in Betracht, die in den Arten und Erscheinungsformen der Krankheiten sowie in den angewendeten Arzneien Platz greifen, so sieht man ein, daß die materiellen Gesetze in bezug auf Gesundheit und Krankheit der allgemeinen Annahme unterworfen sind. Dies geht besonders aus der Tatsache hervor, daß gewisse Arzneien, die einst wirksam waren, jetzt wirkungslos sind, während immer neue Heilmittel in Gebrauch kommen. In der Regel scheint es einem Patienten eine Zeitlang besser zu gehen, wenn er ein neues Arzneimittel gewählt hat, obwohl dieses am Ende seine angebliche Wirkung verliert und einem andern Mittel Platz macht. Das Gesetz Gottes jedoch, wie es der einundneunzigste Psalm zum Ausdruck bringt, läßt keinen Wechsel zu: „Denn der Herr ist deine Zuversicht; der Höchste ist deine Zuflucht. Es wird dir kein Übels begegnen, und keine Plage wird zu deiner Hütte sich nahen.” Die Christliche Wissenschaft bringt durch Nutzbarmachung der göttlichen Macht jede Erscheinungsform menschlichen Gesetzes in bezug auf Krankheit zum Schweigen. Ein jeder wird zugeben, daß Jesus das Gesetz Gottes erfüllte; und doch brach er dabei jedes physische Gesetz. Sogar seine Geburt und feine Himmelfahrt standen mit solchen Gesetzen im Widerspruch. Er heilte die Kranken, erweckte die Toten und stillte den Sturm durch sein Verständnis der göttlichen Macht und im Gegensatz zum materiellen Gesetz.
Die Christliche Wissenschaft macht geltend, daß es ein unveränderliches Lebensprinzip gibt und daß unveränderliche Gesetze die Gesundheit des Menschen regieren. Aber sie verneint die menschliche Auslegung dieser Gesetze und beweist die Wahrheit ihrer eignen Lehre durch Resultate. Daneben erklärt sie die scheinbaren Heilungen medizinischer und andrer Systeme auf der Grundlage mentaler Verursachung.
Seit Äskulap und Hippokrates bis auf den heutigen Tag besteht die Lehre der Medizin der Hauptsache nach in der Erklärung des menschlichen Körpers, seiner Zellgewebe, Tätigkeiten, Ausscheidungen usw. und ihrer Regulierung durch Physische Mittel. Wer die Geschichte der Medizin und ihrer verschiedenen Theorien studiert, findet keine wesentliche Abweichung von der Lehre des Hippokrates in bezug auf Ursache und Heilung der Krankheiten. Es wird behauptet, die Menschheit habe in der Kenntnis der Physiologie, Anatomie und Chirurgie bedeutende Fortschritte gemacht. Experimente mit Arzneien werden fortwährend betrieben. Pope sagt ganz richtig: „Das eigentliche Studium für die Menschheit ist der Mensch.” Die Christliche Wissenschaft wirft nun die Frage auf: Wann erreichen wir das, was eigentlich Mensch zu nennen ist? Die Physiologie sucht den menschlichen Körper zu beschreiben. Die Psychologie ist das Studium der Erscheinungen des sterblichen Gemüts. Dein gegenüber offenbart die Christliche Wissenschaft die Tatsache, daß weder der materielle Körper noch das sterbliche Gemüt irgend etwas mit den, geistigen und wirklichen Menschen zu tun haben, daß der Mensch das Ebenbild Gottes ist, daß seine Erhaltung und seine Gesundheit durch den Schöpfer, Geist, gewährleistet ist und nicht von materiellen Bedingungen abhängt.
Der langsame Fortschritt der Heilkunde in den letzten zweitausend Jahren erklärt sich dadurch, daß wir unsre Anstrengungen, die Wahrheit zu ergründen, am unrechten Orte gemacht haben. Wir haben den zugestandenermaßen mehr oder weniger unvollkommenen Sterblichen studiert, anstatt ein bestimmtes Verständnis des Ideal-Menschen, des Menschen, der vollkommen ist, zur Grundlage unsrer Untersuchungen zu machen. Es ist dies gerade, als ob wir ein falsches Geldstück betrachteten, um zu entdecken, worin die Fälschung liegt, anstatt uns zuerst eine genaue Kenntnis von dem echten Geldstück anzueignen, und demgemäß das falsche zu beurteilen. Wir müssen verstehen lernen, was nötig ist, um den gottgleichen Menschen zu behaupten — den gesunden und sündlosen Menschen. Als Christliche Wissenschafter rühmen wir uns nicht, mehr zu sein als unser Nebenmensch, der unser Verständnis von der Wahrheit noch nicht erlangt hat; aber wir sind dankbar dafür, daß wir die rechte Richtung eingeschlagen haben.
Obwohl die Christlichen Wissenschafter nicht nach Art der Ärzte Krankheiten bestimmen können, so wissen sie doch von, mentalen Standpunkte aus vieles über die Natur der Leiden. Es ist dies keine Überhebung unsrerseits, sondern wir reden aus Erfahrung, wenn wir erklären, die Christliche Wissenschaft gründe sich auf ein wissenschaftliches Verständnis von, Wesen der Disharmonie und vermöge daher, das passende Heilmittel vorzuschreiben. Sie ist ganz und gar abseits der medizinischen Theorien und medizinischen Praxis, hat aber nichtsdestoweniger ihren Wert durch ihre großen Erfolge bewiesen.
Paulus sagte zu Timotheus: „Trinke nicht mehr Wasser, sondern brauche ein wenig Weins um deines Magens willen, und daß du oft krank bist.” Diese Äußerung haben die Trinker von jeher als eine Rechtfertigung für den Gebrauch starker Getränke angeführt, während die Zweifler sie als einen Widerspruch in der Lehre des Paulus bezeichnet haben. Hat Paulus berauschende Getränke empfohlen oder nicht? Hat er Wein als ein Heilmittel für Magenbeschwerden empfohlen oder nicht? Wenn wir bedenken, daß Paulus sowohl wie Timotheus andre durch geistige Mittel von schweren Krankheiten heilten und daß sie daher weit über denen standen, die materielle Mittel anwandten, so dürfen wir gewiß annehmen, daß die Worte des Paulus viel mehr bedeuten als eine buchstäbliche Auslegung zu sagen vermag. Das Wort „Wein” wird in der Bibel häufig sinnbildlich angewandt, und der Apostel brauchte es wahrscheinlich wie die Worte Milch und Speise in der Stelle: „Daß man euch Milch gebe und nicht starke Speise.”
Jakobus sagte: „Ist jemand krank, der rufe zu sich die Ältesten von der Gemeine und lasse sie über sich beten und salben mit Öl in dem Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen”. Er legte offenbar besonderen Nachdruck auf das Gebet des Glaubens; er erwartete, daß das Gebet eine Salbung sein solle. Das Wort „Öl” war daher im bildlichen Sinne gebraucht, wie in der Schriststelle: „Darum hat dich, Gott, dein Gott, gesalbet mit Freudenöl mehr denn deine Gesellen.” Wenn auch die Empfehlung materiellen Öls menschlich natürlich gewesen sein mag, so ist doch kaum anzunehmen, daß Jakobus, der ein treuer Nachfolger unsres Meisters war, ein Heilverfahren empfehlen wollte, dem er entwachsen war besonders seit er mit rein geistigen Mitteln im Heilen so erfolgreich gewesen, daß er kein andres Verfahren mehr nötig hatte. Er hatte als Jünger Jesu ohne Zweifel die reine Wissenschaft von Gott, Geist, genügend erfaßt, um die Ungehörigkeit irgendeiner materiellen Mithilfe beim Gebete einzusehen.
Jedenfalls ist es durchaus klar, daß das Christus-Verfahren, d. h. die Art und Weise, die der Gründer des Christentums anwandte und anempfahl und die jetzt in der Ausübung der Christlichen Wissenschaft wieder mit Erfolg betätigt wird, weder materielle Arzneien, noch persönliche Berührung, noch menschliche Willenskraft in sich schließt. Jesus sagte: „Der Vater aber, der in mir wohnet, derselbige tut die Werke.” Der Erfolg seines Lebens kam von innen. Er überstieg das Erkenntnisvermögen der materiellen Sinne und war in keiner Weise mit der Materialität verbunden, die oft als die äußere Welt bezeichnet wird.
Glücklich ist, wer jede Gabe,
Die ihm wird, mit Freuden nimmt;
Wer von Neid jedoch erfüllt ist,
Der ist ewiglich verstimmt.
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