Manchen Schülern der Christlichen Wissenschaft kommt es anfangs vor, als enthalte diese Lehre einen Widerspruch. Sie sind durch ihre Versprechungen von Freiheit und Glück angezogen worden, sie haben die wohltätigen Wirkungen der Christlichen Wissenschaft erfahren, können aber nicht verstehen, warum sie noch nicht ganz aus dem Dickicht der Trübsal herausgekommen sind. So sagte neulich ein junger Anfänger: „Ich kann es nicht begreifen: gerade wenn ich die schönsten Fortschritte mache, kommt der Irrtum daher, und ich bin wieder ganz unten. Wie ist das zu erklären?” Was wäre es andres, als was in den Worten liegt: „In der Welt habt ihr Angst.” Es ist des Meisters Stimme. Man beachte das Wort „habt.” Gibt es da kein Entrinnen? Warum kann denn Gott, der doch Liebe ist, uns nicht zu Hilfe kommen und uns aller Sorge und allem Leid entheben, wenn wir aufrichtig zu Ihm beten? Ist Er nicht allmächtig, und sind wir nicht Seine Kinder?
Das sind Fragen, die aus grauer Vorzeit stammen, Fragen, mit denen sich die Denker seit Anfang der Geschichte beschäftigt haben, die aber nur mit Glauben und geistigem Verständnis gelöst werden können. Es ist kein Grund zur Entmutigung vorhanden, sondern wir sollten uns vielmehr freuen, denn zu Anfang heißt es: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut.” Man muß jedoch richtig denken und ernstlich lauschen lernen, den kleinen Kindern gleich, die mit leidenschaftlichem inneren-Anteil den Geschichten lauschen, die sie erzählen hören.
Wir werden zur Wahrheit vordringen und Ruhe vor den verwirrenden Fragen und Zweifeln finden, wenn wir suchen, die geistige Bedeutung der bekannten Stellen in der Bibel und im Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft zu ergründen. Die Wissenschaft des Christentums verspricht nichts, was sie nicht erfüllen kann. Sie ist mit der Herrlichkeit unbeflekter Vollkommenheit bekleidet. Es handelt sich aber, wie Mrs. Eddy sagt, um einen „gefahrvollen Auszug aus der Knechtschaft in das Eldorado des Glaubens und der Hoffnung” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 559). Worin nun liegt die Gefahr? Hier erhebt sich wieder die Frage: Warum ist unser Pfad nicht eben und mit allem geschmückt, was das Leben fröhlich und erhebend gestaltet? Aber gerade dieser Art ist unser Pfad, und wir werden das einsehen, wenn wir den geistigen Sinn erlangt haben, der alle Dinge mit dem richtigen Maße mißt und sie vom Standpunkte der ewigen Wahrheit aus beurteilt. Wie gelangt man nun auf diesen Punkt?
Man kann sich leicht denken, daß Jesus den Nachdruck auf die Worte legte: „In der Welt.” Dies gibt uns den Schlüssel zur Lösung der Frage. Lehrt nicht die menschliche Erfahrung, daß Ruhe und Frieden, Befreiung von Sorge, Trübsal und Prüfungen noch nie von irgendeinem Menschen gesunden wurde, solange sein Denken materiell war? Was ist die „Welt”— in dem Sinne, wie Jesus das Wort anwandte — andres als das materielle Denken und Leben, das für die Sünde verantwortlich ist, und Ungerechtigkeit erzeugt? In seinem wundervollen hohenpriesterlichen Gebet, das auf seine Erklärung in bezug auf Trübsal folgte, betete Jesus nicht, daß seine Jünger ihrem irdischen Arbeitsfelde entrückt oder „von der Welt” genommen, sondern daß sie „vor dem Übel” bewahrt bleiben möchten. Sie sollten in der Welt, aber nicht von ihr sein.
Damit bewies er seinen geistigen Idealismus. Er wünschte, seine Jünger möchten, während sie ihre Tätigkeit für ihre Mitmenschen fortsetzten, wie er erkennen, daß das Himmelreich „nahe herbeikommen” ist. Er ermunterte sie mit dem Versprechen, daß sie den Sieg davontragen würden, wenn sie getreulich das Wort hielten, welches er zu ihnen geredet, das Wort der Wahrheit, das sie „rein” gemacht hatte. Da er „die Welt überwunden” und „der Fürst dieser Welt” nichts an ihm hatte, sollten auch sie siegreich sein, obgleich sie den materiellen Sinnen zufolge noch nicht allem Leiden enthoben waren.
Der Meister liebte seine Jünger; er hatte viele wunderbare Werke als Beweis seiner geistigen Macht getan. Wenn es nun seines Vaters Wille gewesen wäre und wenn es in Übereinstimmung mit Gottes Verfahren gegenüber der Menschheit gestanden hätte, so würde er die Jünger gewiß zu der wundervollen hohen geistigen Stufe erhoben haben, die er selbst erreicht hatte. Welch verlockende Aussicht! Wären seinen Jüngern dadurch nicht viele Leiden erspart geblieben? Wären sie nicht reichere Kanäle für Liebe und Gnade gewesen, geeignetere Werkzeuge zur Ausbreitung des Christentums? Menschlich gesprochen ja; aber Gottes Wege sind nicht unsre Wege — seien wir dankbar dafür —, und was Er tut, entspricht der Weisheit. Es ist wahr, daß Menschen oft in einem Augenblick „von der Finsternis zu dem Licht” erhoben werden; aber der Schleier des Glaubens an die Materie wird nicht auf einmal weggenommen, und es erfordert eine lange und beschwerliche Reise, bevor das Ziel erreicht ist.
Die Sterblichen fühlen sich häufig versucht, die göttliche Verfahrungsweife zu tadeln und zu verurteilen; aber es kommt die Zeit, da sie alle die Schönheit und Erhabenheit der liebevollen Unterweisung und des reinigenden Einflusses der Liebe anerkennen werden. „Ihr wisset nicht, was ihr bittet” mag wohl die Antwort sein für die, welche dem Läuterungsprozeß auszuweichen suchen. Oft ist derjenige Christ dem Himmel am nächsten, der am wenigsten daran denkt, ihn zu erlangen. Er weiß, daß er im Himmel sein wird, wenn er dafür bereit ist, und keinen Augenblick früher. Er ist zufrieden, sein Tagewerk auf die Weise zu tun, die Gott verordnet hat.
In Wissenschaft und Gesundheit sagt unsre Führerin an einer Stelle (S. 444): „Früher oder später müssen sich alle in irgendeiner Weise über die Materialität erheben,” und fügt hinzu: „und Leiden ist oft das göttlich wirkende Mittel bei dieser Erhebung.” Das ist so ausgelegt worden, als ob Gott für manche, wenn nicht für alle Leiden verantwortlich sei, durch die wir in das Reich Gottes eingehen. Der Schüler jedoch, der Mrs. Eddys Lehre sorgfältig studiert, lernt bald einsehen, daß sie die allerletzte wäre, eine solche Ansicht zu hegen. Was wir wissen, ist dies: Sünde ist heute ebenso unheilvoll und verderblich als je — nichts kann ihre Natur ändern —, und bis wir imstande sind, den falschen Sinn zu zerstören, der eine Wirklichkeit aus der Sünde macht, werden wir ihre bösen Wirkungen erfahren. „Welch eine traurige Aussicht.” sagt jemand. „Wie können wir je die Welt überwinden, solange wir in diesem sterblichen Körper wohnen?” Von diesem Standpunkt aus ist allerdings keine Hilfe zu erwarten; denn wer ihn einnimmt, fährt fort, sich von sterblichen Gedanken beherrschen zu lassen und hindert dadurch seinen Fortschritt himmelwärts.
Als normales Wesen ist der Mensch geistig und rein; das ist der Ausgangs- punkt. Nichts kann seine Vollkommenheit stören oder anfechten. Er ist so wie ihn Gott geschaffen hat und wird immer so sein. Wenn aber der Mesmerismus der sterblichen Annahme das göttliche Bild vor uns verbirgt und wir in unserm eignen engen materiellen Kreise leben, wo jede Tätigkeit von gemeinen Wünschen und falschen Ansichten eingeengt ist, ist es da nicht peinlich klar, daß wir mit unserm göttlichen Ursprung nicht in Übereinstimmung stehen? Gerade bei dem Bestreben, uns selber zu finden, leiden wir. Wir hören den Ruf der Wahrheit. Eine Vision der Freiheit öffnet sich vor unserm Blick, und wir eilen vorwärts. Aber die Dornbüsche und das Dickicht — all die Irrtümer, die oft unzerstörbar erscheinen, müssen erst weggeräumt werden.
Es ist ein heilsames Werk, dieses Aufräumen mit dem Irrtum, und bringt seinen eignen Lohn. Nie ist es ganz vergeblich; denn Gott, die göttliche Liebe, wirket in uns „beide, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.” Wir überwinden die Welt, indem wir uns über sie erheben — jene Welt, in der das Zeugnis der körperlichen Sinne für wahr angenommen wird, wo Materie dem Geist gleichgesetzt wird, wo wir die Opfer der Illusionen über Leben und Intelligenz sind, und wo die Wahrheit von sterblichen Annahmen, die zum Tode führen, verdreht und verdunkelt ist. Wenn wir zu der Erkenntnis dessen erwachen, was die Wahrheit fordert, und den Menschen als Gottes geistige Idee sehen, dann weichen falsche Begriffe den göttlichen Idealen.
Dennoch sollen wir nicht die Welt verlassen. Welch ein Widerspruch! mag jemand einwenden. Allerdings; und doch enthält er eine Wahrheit, wie alle scheinbaren Widersprüche der Bibel. Hört die Stimme, der die Christlichen Wissenschafter so gerne lauschen: „Liebe Kinder, die Welt hat euch nötig, ... sie hat eure Unschuld, Selbstlosigkeit, treue Hingebung, euer unbeflecktes Leben nötig” („Miscellaneous Writings,“ S. 110). In der Welt aber nicht von der Welt! Wir sollen nicht die Welt verachten, sondern unser Teil beitragen, ihr sterbliches Bewußtsein zu ändern. Wir müssen Willens sein, geläutert zu werden, weil wir dadurch in geistiger Macht wachsen. So erlangen wir im täglichen Leben den Beweis, daß die Christliche Wissenschaft die wahre Bedeutung der Aufgabe des Lebens entfaltet.