Daß die Menschheit den Willen Gottes so allgemein fürchtet, ist auf die vorherrschende falsche Vorstellung von dem Wesen der Gottheit zurückzuführen. Gott wird so beständig als der Urheber des Bösen, des Schmerzes, des Verlustes oder des Unglücks dargestellt, daß die meisten Menschen Seinen Willen als eine Macht betrachten, die Böses schafft. Wenn daher von der Menschheit verlangt wird, daß sie sich dem göttlichen Willen füge, so bedeutet das für sie eher Unheil als Segen. Welch eine Verzerrung des Willens, der nur wirkt, um zu segnen, zu heilen, zu trösten und zu erlösen! Durch eine sonderbare Umkehrung ist die Menschheit gelehrt worden, von der Quelle, aus der in Wirklichkeit ein unerschöpflicher Strom des Glücks und Wohlergehens fließt, Widerwärtigkeiten zu erwarten. Man hat sie dazu erzogen, die bloße Erwähnung Seines Willens zu vermeiden, Gehorsam gegen Ihn als eine Strafe anstatt als ein Vorrecht anzusehen, und danach zu trachten, ihren eignen falschen Begriff von Gott durch materielle Opfer auszusöhnen, in der Hoffnung, dadurch die Allmacht zu besänftigen und der Strafe zu entgehen.
Die Christliche Wissenschaft befreit die Menschheit von Furcht jeder Art, also auch von der Furcht, die durch eine vermenschlichte und unmögliche Vorstellung vom göttlichen Willen erzeugt wird. Sich in liebevollem Gehorsam dem Willen Gottes unterordnen, heißt keineswegs, daß man etwas Gutes oder etwas Wünschenswertes aufgibt, sondern es bringt die Menschheit zu der Erkenntnis eines unendlichen Reichtums stets vorhandener und befriedigender Güte. Der Verfasser des Ebräerbriefs sagte in bezug hierauf: „Der Gott aber des Friedens, der von den Toten ausgeführet hat den großen Hirten der Schafe durch das Blut des ewigen Testaments, unsern Herrn Jesum, der mache euch fertig in allem guten Werk, zu tun seinen Willen, und schaffe in euch, was vor ihm gefällig ist, durch Jesum Christ; welchem sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit!”
Hier mag nun jemand fragen: Wie befähigt die Christliche Wissenschaft ihre Anhänger, den Willen Gottes willkommen zu heißen und sich freudig unter Sein Gesetz und Seine Macht zu stellen? Die Antwort ist: Einfach dadurch daß sie die falschen Vorstellungen von dem Wesen und den Eigenschaften Gottes durch eine wissenschaftlich genaue Erkenntnis Seines Wesens berichtigt. Gott ist unendlich gut. „Gott ist Liebe.” wie Johannes erklärt. Was Gott ist, das ist Er im absoluten Sinn, so daß Er also keine Eigenschaften haben kann, die mit Seiner Vollkommenheit nicht im Einklang stehen. Er besitzt keine der sterblichen Eigenschaften, die im Leben der Menschen solch große Hindernisse sind, wie Neid, Haß, Zorn, Rachsucht, Furcht oder irgendein Gefühl des Mangels oder der Armut. Dies sind einige der sterblichen Eigenschaften, die zu Verbrechen, Krankheit und Unglück führen, und aus diesem Grunde können sie nicht als zum göttlichen Wesen gehörend angesehen werden.
Nachdem der Bewerber um himmlische Güter einen klareren Blick in das Wesen Gottes getan hat, lernt er immer mehr, sich über jede Bekundung des göttlichen Willens zu freuen. Es wird ihm offenbar, daß der Wille Gottes mit dem Wesen Gottes übereinstimmen muß, mit andern Worten, daß Gottes Wille durchaus gut, gerecht, barmherzig, weise und mitleidsvoll ist. Wenn also Schwierigkeiten eintreten, so sucht er nicht dem Willen Gottes als etwas Unheilvollem aus dem Wege zu gehen, sondern er trachtet danach, ihn zu erkennen und ihm zu gehorchen, denn er hat eingesehen, daß dies für ihn Sicherheit und Schutz vor dem Sturm bedeutet. Gewöhnlich aber wird gerade umgekehrt verfahren. Beim ersten Anzeichen eines drohenden Übels flüchtet man sich, versteckt sich vor Gott und beugt sich Seinem Willen erst dann, wenn alle andern Mittel angewandt worden sind und kein Erfolg erzielt worden ist.
Die Menschheit hat ferner den Fehler gemacht, daß sie den göttlichen Willen mit menschlicher Willenskraft verwechselt hat. Ja das Wort „Wille” erregt in vielen Verdacht, denn ihre Erfahrung mit der sogenannten menschlichen Willenskraft ist recht traurig gewesen. Was für Abscheulichkeiten sind nicht unter diesem Namen begangen worden! Die Geschichte ist voll von Beispielen, wo der ungezähmte Wille der Sterblichen Verwüstung und Elend herbeigeführt hat. Weltreiche sind durch ihn entstanden und wieder verfallen. Diese Art Wille hat sich im Maße seines Erfolges als tyrannisch und grausam erwiesen. Kein Mitleid, kein Erbarmen hat sein wüstes Treiben je zu hemmen vermocht. In seiner versteckteren Form kommt er als Mesmerismus und Hypnotismus zum Ausdruck. Es ist daher nicht zu verwundern, daß die Menschheit die Offenbarung eines solchen Willens fürchtet und in ihrer Unwissenheit hinsichtlich des Wesens Gottes auf alle mögliche Art Seinem Willen auszuweichen sucht, obwohl sie denselben als göttlich bezeichnet.
Im Glossarium von Wissenschaft und Gesundheit (S. 597) finden wir beide Arten von Willen wie folgt definiert: „Die treibende Kraft des Irrtums; sterbliche Annahme; tierische Kraft. Die Macht und Weisheit Gottes.” Mrs. Eddy fügt bei, daß das Wort Wille, wenn es auf das sterbliche Gemüt Bezug hat, „nicht mit der Bezeichnung, wie sie auf Gemüt oder auf eine von Gottes Eigenschaften Anwendung findet, verwechselt werden” darf. Der Wille Gottes ist der Ausfluß Seines Wesens, deshalb ist er durchaus gut; der Wille der Sterblichen hingegen kann nur zu Bösem führen, es sei denn, er werde vom Willen Gottes regiert. Als Jesus die bedeutungsvollen Worte sprach: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe,” wies er auf das Mittel gegen den menschlichen oder fleischlichen Willen hin. Dieser fleischliche Wille muß vom göttlichen Willen aufgehoben werden; er muß durch das ersetzt werden, was nie jemandem ein Leid zufügt, weil es nur segnen kann.
In der menschlichen Erfahrung mag das Ersetzen der falschen Art des Willens durch die rechte Art wie ein langsamer Vorgang scheinen; aber man darf bei diesem Werk nicht laß werden. So mancher hat anfangs Erfahrungen, die ihm zeigen, daß ein Sichverlassen auf den eignen Willen gefährlich ist, oder daß der Eigenwille sich zuletzt selbst vernichtet. Dadurch wird er dann veranlaßt, seinen eignen Willen in etwas fahren zu lassen und sich in der Führung seiner Angelegenheiten und seiner Wünsche mehr auf den göttlichen Willen zu verlassen. Die vielgerühmte Betätigung der Willenskraft gegenüber andern erzeugt zuweilen in dem Beherrschten einen Widerstand, der ihn veranlaßt, mit dem gleichen Mittel Widervergeltung zu üben und sich mit Gewalt frei zu machen. Dann gelangen wir zu der Überzeugung, daß die menschliche Willenskraft nicht einmal imstande ist, ihr eignes Ziel zu erreichen; daß, um das Gute in unserm täglichen Leben wirksam zu machen, der Wille von geistiger Erkenntnis geleitet, dem Dienste Gottes geweiht, durch Liebe gereinigt und zum Knecht anstatt zum Meister gemacht werden muß.
Durch das Beherzigen dieser Lehren werden wir nicht zu Nichtsheiten, zu schlaffen, energielosen Wesen, wie der sterbliche Sinn einwendet, sondern zu Menschen, die vom Willen Gottes, von der göttlichen Liebe regiert und beherrscht sind. Diejenigen, die den geistigen Kampf aufnehmen, legen ihre Waffen nicht nieder, wiewohl sie ihre materiellen Verteidigungsmittel fahren lassen. Sie fahren fort, tapfer auf der Seite von Leben, Wahrheit und Liebe zu streiten, aber ihr Begriff von der rechten Art des Kampfes hat sich verändert. Sie erkennen, daß ihre Waffen mental und geistig sind, und sie lernen daher, den göttlichen Willen dadurch zur Geltung zu bringen, daß sie demselben gehorchen und dabei Selbstverleugnung üben.
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