Wohl alle, die sich der Christlichen Wissenschaft um Beistand zuwenden, machen anfangs Erfahrungen, die ihnen recht auffällig sind. So können viele nicht verstehen, worum sich der Praktiker nicht von dem Ernst der Lage, in welcher sie sich zu befinden vermeinen, überzeugen lassen will. Vielleicht hat der unharmonische Zustand, von dem der Patient nun Befreiung sucht, sein Denken schon seit Jahren erfüllt. Der Name, die Symptome, die Entwicklungsgeschichte, der gegenwärtige Stand und die zukünftigen Möglichkeiten dieser Krankheit sind für ihn von solch überwältigendem Interesse, daß er enttäuscht ist, wenn der Praktiker dem Aufzählen der verschiedenen Einzelheiten nicht mit der rücksichtsvollen Aufmerksamkeit zuhorcht, welche der Ernst der Lage doch zu fordern scheint!
Fast unmutig fragt sich der Patient, ob denn der Praktiker wirklich nicht einsehe, wie krank er sei! Er hört eine fröhliche Stimme sagen: „Na, das scheint ja ziemlich ernst gewesen zu sein! Sprechen wir aber lieber ein Weilchen von etwas Angenehmerem, z. B von Gott, von Seiner Güte und Liebe, von dem lieben Vater, der keines Seiner Kinder krank oder unglücklich sehen will.”
Den sterblichen Sinn bringt derartiges allerdings außer Fassung, und der Patient ist in manchen Fällen recht aufgebracht wegen der geringen Achtung, welche seinem Mißgeschick entgegengebracht wird. Er läßt sich jedoch eine Behandlung erteilen und geht nach Hause, um über die Sache nachzudenken. Am meisten beschäftigt ihn das, was der Praktiker ihm von Gott gesagt hat. Es war allerdings nichts Neues, nichts, was er nicht schon früher in der Bibel gelesen hätte. Und doch scheinen die Worte eine andre Bedeutung, einen neuen Sinn zu haben. „Gott ist Liebe,” wurde ihm gesagt, und wie könnte Liebe ihren Kindern Krankheit senden? „Er sandte sein Wort und machte sie gesund”— Sein Wort, und nicht Medizin. „Bei Gott sind alle Dinge möglich,”— nicht einige Dinge, auch nicht die meisten Dinge, sondern „alle Dinge,” sogar das Heilen von Rheumatismus! Wie er sich das alles überlegt, scheint es plötzlich heller zu werden. Eine neuerwachte Hoffnung erfüllt sein Bewußtsein. Wenn dies alles wahr wäre! „Ich vertilge deine Missetaten wie eine Wolke”— wie ein erquickender Tau senkt sich das Gefühl der Hoffnung auf seinen müden Sinn. Er legt sich schlafen mit einem Frieden im Herzen, wie er ihn seit Jahren nicht empfunden hat; und am nächsten Morgen bemerkt er mit Erstaunen, daß sein Rheumatismus verschwunden ist.
Denen, die sich über die metaphysische Art des Heilens nicht klar sind, mag folgender Vorfall zur Erläuterung dienen. Im Dampfheizkörper in einem Lesezimmer der Christlichen Wissenschaft war eines Tages ein lautes schlagendes Geräusch vernehmbar. Die Bibliothekarin, die sich im anstoßenden Zimmer befand, hörte es und trat ins Lesezimmer, um der Störung ein Ende zu machen; aber anstatt dem Heizkörper ihre Aufmerksamkeit zu schenken, schritt sie der entgegengesetzten Wand zu, wo ein selbsttätiger Wärmeregulator angebracht war. Sie drehte einen Knopf, und das Geräusch verstummte. Ein Beobachter, der mit dieser Art Heizvorrichtung nicht vertraut war, hätte sich wohl anfangs gewundert, warum die Bibliothekarin dem Heizkörper keine Beachtung schenkte. Dem besser Unterrichteten wäre es jedoch klar gewesen, daß das Geräusch wohl im Heizkörper war, die Ursache desselben aber unter der Kontrolle des Wärmeregulators stand. Der Heizkörper gab einfach einer Wirkung Ausdruck, während die Ursache ganz wo anders lag.
Das Sinnenzeugnis hatte die Ursache der Störung in den Heizkörper verlegt; die Erkenntnis der Tatsachen sah sie anderswo. Wie töricht ist es überhaupt, eine Wirkung beseitigen zu wollen, solange man die Ursache außer acht läßt! Und doch, ehe die Welt durch Mrs. Eddys Entdeckung die von Jesus gelehrten und betätigten einfachen metaphysischen Wahrheiten erkannt hatte, gab man sich fortwährend mit der Behandlung von Wirkungen ab. War die Störung z. B. im Herzen oder in der Lunge, so behandelte man diese Organe. Wie beharrlich auch der Heizkörper unsre Aufmerksamkeit auf sich lenkt: dürfen wir uns täuschen lassen? Trotz aller Geduld und Liebe und Pflichttreue würde man umsonst mit Hammer und Schraubenzieher an ihm herumarbeiten, solange die Ursache der Störung an einer ganz andern Stelle ist. Mrs. Eddy schreibt in Wissenschaft und Gesundheit (S. 400): „Wenn wir die Krankheit dadurch beseitigen, daß wir uns an das beunruhigte Gemüt wenden und dem Körper keine Beachtung schenken, beweisen wir, daß der Gedanke allein das Leiden schafft.”
Die christlich-wissenschaftlichen Praktiker verstehen dies, und darum schenken sie den physischen Symptomen nur wenig Beachtung. Sie halten es für besser, Hammer und Zange wegzulegen und den harmlos aussehenden Regulator, das sterbliche Gemüt, ins Auge zu fassen. Würde es etwas nützen, wenn man sich vor den Heizkörper stellte, mit der Uhr in der Hand die Schläge in einer Minute zählte, die Dauer des Geräusches feststellte oder einen andern fragte, was wohl die Ursache der Störung sei? Die Christliche Wissenschaft beschäftigt sich mit Gedanken, nicht mit materiellen Dingen. Mrs. Eddy schreibt: „Unser Meister fragte: ‚Wie kann jemand in eines Starken Haus gehen, und ihm seinen Hausrat rauben, es sei denn, daß er zuvor den Starken binde?‘ Mit andern Worten: Wie kann ich den Körper heilen, ohne mit dem sogenannten sterblichen Gemüt zu beginnen, welches den Körper unmittelbar beherrscht?” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 399). Die Christliche Wissenschaft heilt die Menschen dadurch, daß sie sie von ihren falschen Vorstellungen erlöst. Sie berichtigt ihre falsche Denkweise, indem sie sie durch eine richtige Denkweise ersetzt und dadurch auch die Wirkungen einer irrigen Denkweise aufhebt. Wie ein gewissenhafter Gärtner rottet sie alles schädliche Unkraut aus, vor allem Selbstsucht, Neid, Haß und Furcht, so daß an ihrer Stelle die duftenden Blumen der Barmherzigkeit, der Vergebung, der Reinheit und der Liebe blühen können.
Hier mag nun jemand, der noch schwerbeladen und mit wunden Füßen am Kreuzweg steht, Einspruch erheben. „Ich will das alles zugeben,” sagt er. „Wohl sehe ich ein, daß ich mein eignes Denken schon längst hätte beherrschen sollen, anstatt mich von ihm beherrschen zu lassen; Tatsache bleibt jedoch, daß ich es nicht getan habe. Ist es zu spät? Ich will wissen, was ich heute tun muß, und nicht, was ich vor zwanzig Jahren hätte tun sollen. Kann ich noch geheilt werden? Wie lange muß man für die Folgen vergangener Fehler büßen?”
Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß die Strafe für einen Fehler so lange andauert bis man den Fehler sieht, anerkennt und ihn berichtigt — nicht länger. Den. Ausdruck „zu spät” kennt sie nicht. Der Mensch lebt im ewigen Jetzt, und jetzt hat er die Gelegenheit, recht zu tun. Wer da glaubt, es sei unmöglich, die Vergangenheit wieder gut zu machen, fasse Mut. Wie ernstlich er auch gefehlt, wie lange ihn auch der Irrtum gefangen gehalten hat: wenn seine Reue aufrichtig ist und er sie durch die Tat beweist, so kann er sich von dem Irrtum mit all seinen bösen Erinnerungen ebenso sicher losmachen, wie er einen abgetragenen Rock beiseite legt. Als der verlorene Sohn in seines Vaters Haus zurückkehrte, wurde er nicht mit Vorwürfen und Beschuldigungen empfangen. „Das beste Kleid” wurde ihm angelegt — nicht ein ziemlich gutes, sondern „das beste.” Er erhielt „einen Fingerreif,” „Schuhe an seine Füße,” und eine liebe, wohlbekannte Stimme empfing ihn mit den Worten: „Mein Sohn.”
Also wartet die göttliche Liebe auf einen jeden von uns. Wir mögen lange „ferne über Land” gegangen sein, wir mögen viel gelitten haben, ehe wir willens waren, von dem falschen Glauben an eine materielle Existenz zu lassen und unsre wahre Selbstheit als das geliebte Kind Gottes zu finden. Die Reise zurück zu dem elterlichen Hause mag langsam und mühselig sein, mancher Sturz und Fall mag vorkommen, aber die Liebe ist stets zur Hand und wartet geduldig. Über eines müssen wir jedoch im Klaren sein: wir dürfen nicht des Ringes, oder der Schuhe, oder des besten Kleides wegen heimkehren. Seien wir vielmehr gewiß, daß wir es deshalb tun, weil wir des Vaters bedürfen und weil wir uns nach jenem Frieden sehnen, der nur durch das bewußte Weilen in Seiner Gegenwart zu erlangen ist.
Im Gemüt liegt der Keim zu großen Gedanken und Taten, aus ihm nehmen die unsterblichen Werke von Dichtern und Künstlern ihren Ursprung, denn zu allen Handlungen und Taten gibt das Gemüt den Antrieb.
