Im dreißigsten Kapitel des fünften Buchs Mose lesen wir, wie Moses zu dem Volk sagte: „Ich nehme Himmel und Erde heute über euch zu Zeugen: ich habe euch Leben und Tod, Segen und Fluch vorgelegt, daß du das Leben erwählest und du und dein Same leben mögest, daß ihr den Herrn, euren Gott, liebet, und seiner Stimme gehorchet und ihm anhanget. Denn das ist dein Leben und dein langes Alter.” Die ganze Geschichte des jüdischen Volkes weist auf seine starke Überzeugung hin, daß der Gehorsam gegen den Willen Gottes zur Lösung aller Probleme des Daseins führt. Um aber Gott zu gehorchen, muß man Seinen Willen und Sein Wesen kennen. Eines Volkes Religion, seine Vorstellung von Gott, seine Auffassung von Pflicht, das alles bestimmt seinen nationalen Charakter und sein nationales Streben. Es ist nicht genug, daß man sich auf die Seite Gottes stellt. Das Streben muß von geistiger Erkenntnis begleitet sein, oder man läuft Gefahr, auf Grund einer irrigen Auffassung vom Wesen der Gottheit auf falsche Bahnen zu geraten.
Die Entwicklung der wahren Auffassung von Gott ging in der Tat langsam vor sich — von einem Gott des Krieges, einem eifersüchtigen Gott, der der Urheber des Bösen sowohl als des Guten ist, bis zu Jesu erhabener Erkenntnis von Ihm als Geist, als dem liebevollen Vater aller, dem Urheber des Guten, ja nur des Guten, der auf ewig frei ist vom menschlichen Glauben an die Materie und die materiellen Gesetze. Mrs. Eddy schreibt: „Physische Ursächlichkeit wurde von diesem Original-Menschen, Jesus, ganz und gar beiseite gesetzt. Er wußte, daß das göttliche Prinzip, Liebe, alles Wirkliche schafft und regiert” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 286). Und Jesus sagte: „Der Geist ist’s, der da lebendig macht; das Fleisch ist nichts nütze.” Daß er kein Vertrauen auf die Materie hatte, sondern sich gänzlich auf den Geist verließ, wurde durch seine Fähigkeit gerechtfertigt, einen jeden unharmonischen Zustand, der ihm entgegentrat, zu überwinden. Sogar der Tod, „der letzte Feind,” mußte seinem Verständnis weichen, daß das Leben Gott ist, daß es nicht im Körper wohnt und deshalb nicht durch den Körper angegriffen werden kann.
Dieses erhabene Ereignis, die Überwindung des Todes, wird zu sehr als ein persönliches Wunderwerk Jesu betrachtet und zu wenig als eine Beweisung der Macht, die uns allen zu Gebote steht. Es liegt auf der Hand, daß Unmögliches nicht vorkommen kann. Huxley sagt, wenn ein staunenerregendes Ereignis stattgefunden hat, sollten die Menschen nicht ausrufen: „Ein Wunder ist geschehen!” sondern sie sollten lieber nach den verborgenen Ursachen des Ereignisses forschen. Die Welt gibt zu, daß Gott Geist ist, sich selbst aber betrachtet sie als materiell. Deshalb hält sie es für notwendig, sich den Ansprüchen der Materie zu unterwerfen, und bricht dadurch die Treue gegen Gott, welche Moses verlangte.
Die Christliche Wissenschaft führt uns zurück zu der geistigen Gesinnung des Meisters, welche die Abhilfe einer jeden Notdurft der Menschheit bewirkt. Der Christliche Wissenschafter weiß, daß die Schöpfung dem Schöpfer nicht unähnlich sein kann, daß der Mensch und das Weltall geistig und vollkommen sind; und durch das Verständnis dieser Tatsache bewahrheiten sich ihm die Worte des Moses, daß des Menschen Leben in Gott ist. Durch die Betätigung der Christlichen Wissenschaft werden in unsern Tagen die Werke Jesu wiederholt. Es wird bewiesen, daß, weil das wahre Leben im Gemüt, im Geist ist, wahre Gedanken die Verbindung zwischen Gott und dem Menschen ausmachen. Geistiges Verständnis ermöglicht uns, die göttliche Macht, die nur Gutes bewirkt, widerzuspiegeln. Die Tatbeweise in der Christlichen Wissenschaft, wie einst die Werke Jesu, erschließen die Tatsache, daß Harmonie das Gesetz des Seins ist.
Der menschliche Gedanke ist jedoch gewohnt, die Allmacht des Guten zu verneinen und die vielerlei Erscheinungsformen des Bösen zu fürchten. Da er gewohnt ist, den Körper für den Träger des Lebens zu halten, so frägt er jeden Morgen: wie sind die Aussichten für heute, gut oder schlecht? Der Christliche Wissenschafter wird gelehrt, keine Fragen an den Körper zu stellen, sondern sich unentwegt dem geistigen Verständnis zuzuwenden. Wenn der physische Sinn der Bekräftigung der Allmacht des Guten zu widersprechen sucht, so weiß der Christliche Wissenschafter, daß die geistige Wahrheit dennoch herrscht, daß der physische Sinn ein Lügner ist, daß das Böse Gott, der allein den Menschen regiert, nicht überwinden kann.
Ferner macht der Christliche Wissenschafter die Erfahrung, daß in dem Maße, wie er seinem geistigen Verständnis treu bleibt, der falsche Augenschein des Bösen abnimmt und zuletzt verschwinden wird. Das Bewußtsein des Guten tritt an die Stelle des zeitweiligen Glaubens an das Böse. Unsre Führerin schreibt: „Der geistige Sinn ist eine bewußte, beständige Fähigkeit, Gott zu verstehen” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 209). Das geistige Bewußtsein bringt Leben zum Ausdruck. Die Treue gegen die Wahrheit, das Gesinnetsein „wie Jesus Christus auch war,” führt zur klaren Erkenntnis der Allgegenwart Gottes.
Unsre Zeit verlangt nach mehr Licht in bezug auf das ewige Wesen der Dinge. Die Antwort mit „mitfolgenden Zeichen” ist ihr geworden. Lehre und Tatbeweise müssen Hand in Hand gehen. Es regt sich in steigendem Maße das Verlangen nach einer Religion, die mehr als blinden Glauben fordert. Die Religion ist zur Wissenschaft geworden, und es wird immer mehr zugegeben, daß geistige Entwicklung zu der Fähigkeit führen muß, die Macht Gottes zu beweisen. Die Sache ist so einfach, daß man sich nur wundert, warum die Menschen noch zögern. Sollen wir uns auf die Seite der Materie schlagen, auf die Seite des Glaubens an das Böse, und sollen wir fortfahren, infolge unsrer materiellen Gedanken zu leiden und dahinzusterben, oder sollen wir uns für den Geist entschließen und dadurch Frieden erlangen? Wenn wir glauben, die Materie sei mächtiger denn Geist, d. h. wenn wir aus der Materie einen Gott machen, dann sind wir sicherlich nicht wahre Nachfolger Jesu Christi.
Haben wir erst erkennen gelernt, daß Gott die einzige Macht ist und daß wir uns daher in jeder Beziehung gänzlich auf Ihn verlassen können und müssen, so wird uns dieses Vertrauen „nicht zu Schanden werben” lassen. Treue gegen Gott wird dann als des Menschen einzige Pflicht anerkannt. Der Geist, das schöpferische Prinzip, besitzt Macht genug, um seine eigne Schöpfung aufrecht zu erhalten. Durch die richtige Erkenntnis Gottes und durch das Verwerfen jeder andern Macht wird der Christliche Wissenschafter zur lebendigen Verkörperung der biblischen Verheißungen, die den Kindern Gottes noch nie vorenthalten worden sind — Verheißungen des Segens, der Harmonie, ja der Fähigkeit, das Wesen der Gottheit wiederzuspiegeln. Der himmlische Vater wird für ihn Immanuel, „Gott mit uns.”