Der lähmende und betäubende Einfluß der Furcht tritt wohl nirgends so deutlich zutage wie im Gleichnis von den anvertrauten Zentnern. Die Worte des faulen Knechtes: „Und fürchtete mich,” bringen den Grund seiner strafwürdigen Untätigkeit zum Ausdruck. Sie erklären die Trägheit, welche trotz hinreichender Ausrüstung und guter Gelegenheit zum Dienst in der Stunde der Rechenschaft nichts zu bieten hatte als die stammelnden Worte: „Da hast du das Deine.”
Die erste Wirkung dieser Furcht war Heimlichkeit. Der Knecht ging hin und verbarg das ihm anvertraute Geld in die Erde. Dadurch vergrub er die Möglichkeit seines Wachstums und die Fähigkeit, sich seinen Mitmenschen nützlich zu erweisen. Fälle dieser Art kommen auch heute noch oft vor. So ist z. B. einem Menschen durch die Christliche Wissenschaft geholfen worden, und anstatt nun hinaus unter die Menschen zu gehen und seine Dankbarkeit für die erhaltenen Segnungen durch Geduld, Demut, Selbstlosigkeit und gute Werke zu beweisen, überläßt er sich der Furcht, daß er abfällig beurteilt oder als ein Abtrünniger oder ein Sonderling angesehen werden könnte. Und so gräbt er denn mit dem Werkzeug der Furcht eine Grube und versteckt die Schätze, die ihm anvertraut worden sind. Ist es da ein Wunder, wenn früher oder später der Befehl ertönt: „Darum nehmet von ihm den Zentner”?
Wenn wir unsre geistige Erkenntnis nicht betätigen, so kommt sie uns nach und nach abhanden, wohingegen sie durch beständigen Gebrauch und anhaltendes Gebet wächst. Wahre Dankbarkeit für erhaltene Segnungen regt stets dazu an, wie Andreas und Philippus zu handeln, die sofort anfingen, ihrer Umgebung das Evangelium zu verkündigen. Ihre Botschaft lautete: „Wir haben den Messias gefunden.” Dankbarkeit erzeugt den Wunsch, andern zu dienen, und diese Tätigkeit vermehrt alles Gute, das man bereits hat.
Muß nicht der Pianist fortwährend üben, wenn er seine Technik vervollkommnen will? Mrs. Eddy erklärt: „Um mehr erfassen zu können, müssen wir das betätigen, was wir schon wissen” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 323). Solcher Art ist der natürliche und logische Gang menschlicher Entwicklung — nicht nur auf dem Gebiete der Kunst, sondern auch in bezug auf geistiges Wachstum. Wollen wir bei der Abrechnung über die uns anvertrauten geistigen Güter Lob ernten, so müssen wir lernen, diese Güter im täglichen Leben nützlich anzuwenden. Wer seine Fähigkeit, Gutes zu tun, unbenutzt läßt, verstößt gegen die Grunderfordernisse des Christentums: gegen die Liebe zu Gott und zum Mitmenschen.
Bei näherer Betrachtung kann man Untätigkeit auf die Herabsetzung seiner selbst zurückführen, auf die Weigerung, den Menschen als zum Bilde Gottes geschaffen zu erkennen, als den Menschen, der alles vermag durch Christus. Oder aber handelt es sich um träge Unachtsamkeit, die nichts weiter ist als eine Form der Selbstsucht. Tatsächlich sind Selbstsucht und Furcht vertraute Freunde, sie gehen Hand in Hand. Der Knecht in dem Gleichnis ließ sich einfach vom Strome treiben, in der Hoffnung, daß die Sache schon noch einen guten Ausgang nehmen werde. Dies ist eine der gefährlichsten Vertröstungen des unerleuchteten menschlichen Sinnes. Eine Sache nimmt nie einen guten Ausgang, es sei denn, sie sei richtig begonnen und richtig durchgeführt, gemäß den Anforderungen der Gerechtigkeit, der Barmherzigkeit und der Liebe. Kein Problem wird dadurch gelöst, daß man ihm aus dem Wege geht. Den schwierigen Punkt zu umgehen, bringt uns nicht vorwärts.
Der Knecht, welcher seinen Zentner vergräbt, beraubt sich der Freuden, die man empfindet, wenn man ein großes Werk vollbracht, einen glorreichen Sieg errungen hat. Es gilt ihm nicht das Lob: „Du bist über wenigem getreu gewesen.” Und wird ein Mensch, an den diese Worte gerichtet worden sind, die Freude eines solchen Augenblicks gegen die Dinge austauschen wollen, welche die Welt bietet? Dieses Lob ist stets von der Zusicherung begleitet, daß der Betreffende „über viel” gesetzt werden solle.
Der „fromme und getreue Knecht” freut sich in dem Bewußtsein, daß er klarere geistige Begriffe gewonnen hat. Er legt die frohe Hilfsbereitschaft an den Tag, welche der Furchtlosigkeit des wahren Glaubens entspringt. Er weiß, daß er nur empfänglich sein muß, und daß dann die allgegenwärtige und allmächtige Liebe, welche in ihm wirket, alles vollbringen wird. Wie könnte er sich also fürchten?
