Die im achtzehnten Kapitel des Johannes-Evangeliums beschriebene Gerichtsszene ist für jeden Nachfolger Christi von hoher Bedeutung. Vor dem Palast des Hohenpriesters tobte der zornige, unzurechnungsfähige Pöbel und verlangte eine schnelle Entscheidung, die seine Leidenschaft befriedigen würde; im Gerichtssaal selbst standen der Vertreter römischer Herrschaft und der irdische Vertreter geistiger Macht einander gegenüber.
Pilatus beabsichtigte wohl, die Untersuchung auf die bei den römischen Herrschern übliche stolze Art zu führen, wurde aber von der Gegenwart Jesu überwältigt. Die ruhige, furchtlose Haltung des Angeklagten sowie dessen bewußte Überlegenheit machten Pilatus unsicher, und nur zu gerne hätte er die Untersuchung für beendet erklärt, wenn die wartende Volksmenge nicht beständig ihre Forderungen erhöht hätte. Als Pilatus zu Jesu sagte, er habe als Statthalter die Macht, sein Schicksal zu entscheiden, zauderte dieser nicht, ihm eine Rüge zu erteilen, indem er auf das geistige Reich als den Ursprung aller Macht hinwies. Wohl in der Absicht, den Angeklagten in das Bereich des römischen Gesetzes zu bringen, fragte ihn Pilatus: „Bist Du ... ein König?” worauf der Meister antwortete: „Ich bin dazu geboren und in die Welt kommen, daß ich für die Wahrheit zeugen soll.”
Jesus war der Wegweiser, daher müssen sich alle seine Nachfolger befleißen, in seinen Fußtapfen zu wandeln. Als er Pilatus in jenen wenigen Worten seinen Zweck und seine Aufgabe darlegte, wies er damit klar und deutlich auf den Zweck und die Aufgabe aller Menschen hin. Es ist die Pflicht und das Vorrecht eines jeden Christen, der die Lehre unsres Meisters versteht — und in Wirklichkeit sind wir erst dann Christen, wenn wir diese Lehre in gewissem Maße erfaßt haben — für die Wahrheit zu zeugen; ja es sollte dies beständig unser Bestreben sein. Ehrgeiz, Selbstsucht, das Verlangen nach weltlichen Vergnügen und materiellen Gütern — all das hat keinen Raum im Leben eines wahren Christlichen Wissenschafters. Jeder Wunsch des Herzens muß mit der Demonstration der Macht des Rechtes im Einklang stehen und sich ihr unterordnen. Es muß dem Trachten nach dem Reich Gottes entspringen, wie Jesus lehrte.
Stehen Krankheit, Schmerz und Kummer vor der Tür unsres Bewußtseins und begehren Einlaß, dann können wir die Tatsache bekräftigen, daß sie kein Teil von Gottes Schöpfung sind, also nicht auf Wahrheit beruhen, können diese Eindringlinge dadurch unschädlich machen, daß wir uns die Nichtsheit der Materie und die Allheit Gottes und Seiner vollkommenen Schöpfung vergegenwärtigen. Versucht Mangel oder Armut unsern Blick zu trüben, so daß wir Gott und Seine liebevolle Fürsorge nicht mehr zu erkennen vermögen, dann können wir durch eine klarere Erkenntnis der Liebe als der Quelle unbegrenzter und stets gegenwärtiger Versorgung beweisen, daß unser himmlischer Vater Seine Kinder nicht darben läßt. Drohen uns die Giftzähne des Neides, des Hasses oder der Bosheit, so können wir uns bewußt werden, daß diese Eigenschaften nicht Seinen Kindern angehören, und daß sie keine andre Macht haben, als sich selbst zu zerstören. In dieser Weise sind wir imstande, für die Macht der unendlichen Liebe zu zeugen.
„Ihr aber seid meine Zeugen, spricht der Herr.” Ein jeder Tag bietet neue Gelegenheiten, unsre Aufgabe zu erfüllen, nämlich den Irrtum mit der Wahrheit zu überwinden. Wir zeugen entweder für den Irrtum oder für die Wahrheit; eine Halbheit gibt es hier nicht. Wenn der Irrtum uns zum Werkzeug macht, ohne daß wir uns dagegen sträuben, so legen wir Zeugnis ab für seine vermeintliche Macht und haben somit kein Recht, uns Nachfolger dessen zu nennen, der für die Wahrheit zeugte. Was ist diese Wahrheit, für die wir zeugen fallen? Pilatus wußte es nicht, wohl aber Jesus. Für ersteren, wie für jeden andern Materialisten, schien die Welt ein gesetzloses Durcheinander zu sein, dem Zufall und beständigen Wechsel unterworfen, ein Gemisch von Gesundheit und Verfall, Harmonie und Zwietracht; und das Endziel — Vergessenheit. Kein Wunder, daß er fragte: „Was ist Wahrheit?” denn in einem solchen Weltall wäre die Wahrheit unbekannt. Wer aber den Christus-Sinn hat, der weiß, wie nichtig und flüchtig materielle Dinge, wie wirklich und substantiell geistige Dinge sind. Ferner weiß er, daß das Geistige allein wahr und wirklich und das Zeitliche somit unwahr und unwirklich ist. Die geistige Wahrnehmung und das geistige Verständnis dieser Tatsache führt zu überzeugenden Wahrheitsbeweisen.
Es ist unsre Aufgabe, wie es auch unsres Meisters Aufgabe war, Irrtum jeder Art zu überwinden und so für die Wahrheit zu zeugen. Wenn wir dies begriffen haben, wenn wir zu der Einsicht gekommen sind, daß die Allmacht uns diese Arbeit zu verrichten gegeben hat und durch uns wirkt, dann werden unharmonische und böse Erscheinungen ebensowenig in unserm Bewußtsein verweilen können, wie Dunkelheit dem Lichte standhalten kann. Wie getreulich Jesus seine Aufgabe erfüllte, wie standhaft er das Banner der Wahrheit während der ganzen Zeit seines öffentlichen Auftretens hochhielt, wird durch die Worte des Johannes, mit denen er seinen Bericht über die irdische Laufbahn des großen Wegweisers schließt, sehr schön ausgedrückt: „Es sind auch viel andre Dinge, die Jesus getan hat; so sie aber sollten eins nach dem andern geschrieben werden, achte ich, die Welt würde die Bücher nicht begreifen, die zu beschreiben wären.”
Welch herrliche Gelegenheiten harren des Christlichen Wissenschafters, der des Meisters Auslegung vom wahren Lebenszweck anerkennt und ehrlich bestrebt ist, in jeder Lage und unter allen Umständen für die Wahrheit zu zeugen! Mrs. Eddy gibt diesem Ideal in den folgenden herrlichen Worten Ausdruck: „So leben, daß das menschliche Bewußtsein in beständiger Beziehung mit dem Göttlichen, dem Geistigen und dem Ewigen bleibt, heißt die unendliche Macht individualisieren; und das ist die Christliche Wissenschaft” („The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany,“ S. 160).
