Auf dem Siegel einer amerikanischen Universität stehen in lateinischer Sprache die bekannten Worte des Paulus: „Was wahrhaftig ist.” Ein passenderes Motto für eine dem Wohl der Allgemeinheit geweihte Anstalt, in deren sämtlichen Abteilungen nach Wahrheit geforscht wird, ließe sich schwerlich finden. Auf die Wahl dieses Spruches sind die Studenten sowohl wie der Lehrkörper und die Freunde der Universität immer sehr stolz gewesen.
Im Bibeltext stehen diese Worte nicht allein, sie bilden keinen vollständigen Satz, sondern stehen in enger Beziehung zu den weiteren wohlbekannten Worten: „Was ehrbar, was gerecht, was keusch, was lieblich, was wohl lautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem denket nach!” Hier legt der Apostel die Regel fest, die dem Denken des Jüngers Christi zum Führer dienen soll. Er nennt die Dinge, auf die der Sinn, der auch in Christus Jesus war, natürlicherweise gerichtet ist; und der Christ, der stets nach dieser Gesinnung strebt, muß sich bei der Bewachung der Eingänge zu seinem Denken gewissenhaft an diese Norm halten.
Es ist, allgemein gesprochen, nicht empfehlenswert, aus einer längeren Bibelstelle einige Worte herauszunehmen; aber in diesem Fall liegt die Sache anders. Die Anfangsworte können gut allein gebraucht werden, weil sie die ganze Stelle zusammenfassen. Es ist jedoch nicht wahrscheinlich, daß der Gründer der Universität, der das „quaecumque sunt vera“ wählte, den Zusammenhang dieser Worte mit dem übrigen Text vollständig erfaßte; und dasselbe gilt wohl auch von denen, die seither auf jener Bildungsstätte gelehrt und gewirkt haben.
Die Verfasserin des Lehrbuchs der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, sagt uns, weshalb nur das Gute, das Reine und das Schöne wahr sein kann. Ihre Begründung bildet die frohe, lebendige Botschaft der Christlichen Wissenschaft. Auf Seite 472 von Wissenschaft und Gesundheit finden sich die Worte: „Alle Wirklichkeit ruht in Gott und Seiner Schöpfung und ist harmonisch und ewig. Was Er schafft, ist gut, und Er macht alles, was gemacht ist. Daher ist die einzige Wirklichkeit von Sünde, Krankheit und Tod die schreckliche Tatsache, daß der menschlichen, irrenden Annahme Unwirklichkeiten wirklich scheinen, bis Gott ihnen ihre Maske abnimmt. Sie sind nicht wahr, weil sie nicht aus Gott sind.” Die Richtigkeit dieser Beweisführung ist jedem klar, der Gott als das unendliche Gute, die einzige Ursache, den einzigen Urheber des wahren Seins anerkennt. Nur die Dinge, die göttliche Eigenschaften ausdrücken, können wirklich sein.
Die Welt im allgemeinen hat noch nicht erkannt, daß die Worte ehrbar, gerecht, keusch, lieblich, wohl lautend usw. nur nähere Bestimmungen sind für das, „was wahrhaftig ist.” Der Grund, weshalb diese Eigenschaften nicht immer in ihrer lebendigen Bedeutung klar erkannt worden sind, ist in der Gewohnheit der Selbsttäuschung zu suchen, der sich die Menschheit ergeben hat und die darin besteht, Ursache in Scheinbarkeiten zu suchen statt im Prinzip. Die Folgen dieser verfehlten menschlichen Denkart sind denn auch die allernachteiligsten gewesen, indem die Menschheit in unharmonische und in ihren Einzelheiten fürchterliche Zustände geriet. Doch entspricht nichts von alledem der Wahrheit. Es ist das, was Mrs. Eddy in der oben zitierten Stelle „die schreckliche Tatsache” nennt, „daß der menschlichen, irrenden Annahme Unwirklichkeiten wirklich scheinen, bis Gott ihnen ihre Maske abnimmt.” Der materielle Sinn hat die Menschheit zu der falschen Annahme verleitet, daß das Unreine und Niedrige ebenso wahr sei wie das Reine und Erhabene, daß Leidenschaft und das dadurch herbeigeführte Elend ebenso wirklich seien wie Tugend und ihr Preis.
Dies erinnert sofort an die tiefbedeutsame Frage des Pilatus: „Was ist Wahrheit?” Was ist ihr Kennzeichen? Wenn die beschränkte Vorstellungswelt des sterblichen Menschen der endgültige Maßstab ist, dann darf man allerdings das Unschöne, das Unehrliche, das Gemeine als ebenso wirklich und wahr ansehen wie ihre Gegensätze, nach denen wir alle streben. Die Christliche Wissenschaft legt jenen christlichen Idealismus aus, dem überall in der Bibel das Wort geredet wird. Sie lehrt uns, vom göttlichen Prinzip aus zu urteilen. Das vollkommene Wesen Gottes kann nur durch das Wahre zum Ausdruck kommen. Deshalb gehört die schreckliche Disharmonie des Übels ins Bereich der Illusion. Vom Standpunkt der Wahrheit aus Illusion als solche erkennen, bedeutet ihre Vernichtung, in Übereinstimmung mit Jesu denkwürdigen Worten: „Und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen.”
Wenn man durch einen bösen Anblick beunruhigt oder erschreckt wird, hernach aber entdeckt, daß es eine Täuschung war, so löst sich die Spannung, ja sie verwandelt sich bisweilen in ein Gefühl der Heiterkeit über die ausgestandene Angst. Durch die Erkenntnis, daß eine Sache nur ein Schein oder eine Täuschung ist, wird sie zum Schwinden gebracht, und das als wahr Erkannte tritt sofort im Bewußtsein lebendig an dessen Stelle, gleichviel was der getäuschte Sinn zuvor gesehen haben mag. Die freudige Botschaft des Evangeliums ist, daß das Übel im wahrsten Sinn des Wortes nichtbestehend ist. Die „Werke des Teufels” sind die Werke eines Lügners „von Anfang.”
Es sollte der Welt ein großer Trost sein, daß ein Übel nach dem andern dem Scheinwerfer der Christlichen Wissenschaft ausgesetzt und als etwas Unmögliches erkannt wird, weil es eben dem Wesen Gottes nicht im geringsten entspricht. So schwindet nach und nach alles Böse aus dem Bewußtsein, wie jede Täuschung schwindet, wenn sie als eine Unwirklichkeit erkannt wird.
Christi Jesu Lehre und Wirken bewies, daß mit dem Kommen des Himmelreichs das Falsche und Böse berichtigt und durch das Gute und Wahre verdrängt wird. Die Werke des fleischlichen Sinnes, des Vaters der Lüge, werden durch die Erkenntnis der unendlichen Gegenwart und Macht Gottes, des göttlichen Gemüts vernichtet. Der Heilige Geist, der göttliche Tröster, errettet uns, indem er uns in alle Wahrheit führt. Hier sei bemerkt, daß diese Anschauung vom Himmelreich allen Idealen der Erziehung, der Bildung und des Fortschritts entspricht. Mögen auch die Begriffe von Wahrheit verschieden sein, so besteht die Erziehung doch im Emporführen des menschlichen Denkens zu diesen Begriffen oder dieser Norm. Lehranstalten und Universitäten haben den Zweck, an Stelle primitiver Anschauungen höhere, der Wahrheit näher kommende Anschauungen treten zu lassen. Dieser Zweck ist höchst lobenswert, vorausgesetzt, die Norm ist richtig. In allen Fällen, wo Ehrlichkeit die treibende Kraft ist, oder wo etwas zum Wohl der Menschheit unternommen oder vollbracht wird, stellt sich bei uns ein Gefühl der Bewunderung ein, und wir loben und ehren das Vollbrachte.
Leider beruht nun aber die Arbeit der Schulen größtenteils auf materieller Grundlage, auf den Angaben der materiellen Sinne, daß das Leben in der Materie sei. Jedes Jahrzehnt stellen die Universitäten neue Theorien auf über die Materie, über den Menschen, über die Medizin, und die früher gelehrten Theorien fallen der Vergessenheit anheim. Zu den Abteilungen der Universität, welche die Worte „Was wahrhaftig ist” zum Motto hat, gehört eine große medizinische Schule. Christus Jesus war der größte Heiler, den die Geschichte kennt. Diese Lehranstalt nennt sich christlich, scheint aber der Heiltätigkeit Christi Jesu nicht zu gedenken. In den Vortragssälen und Laboratorien dieser sogenannten christlichen Schule wird ihr keine Beachtung geschenkt. Ist es ein Wunder, daß die Christlichen Wissenschafter, die in erster Linie danach streben, so gesinnt zu sein wie Christus Jesus, durch die schulmäßigen Anschauungen nicht gebunden sein wollen?
Wenn die Christlichen Wissenschafter in Dingen, die auf Religion, Erziehung und Heilverfahren Bezug haben, Gewissensfreiheit beanspruchen, so gestehen sie natürlich dieses Vorrecht auch allen Andersgläubigen zu. Diese Haltung könnte nicht besser beschrieben werden als in den Worten Mrs. Eddys auf Seite 5 von „Unity of Good“: „Laßt uns die Gewissensfreiheit und die Freiheit der Söhne Gottes achten und somit unsre ‚Lindigkeit ... kund sein [lassen] allen Menschen.‘ Es darf keine Feindschaft, kein erbitterter Wortstreit entstehen zwischen Schülern der Christlichen Wissenschaft und andern Christen, die hinsichtlich des Wesens der Sünde und der herrlichen, durch wissenschaftliche Betrachtung zunächst nur schwach erschauten Einheit des Menschen mit Gott ganz oder teilweise andrer Ansicht sind. Überlaßt den herrlichen Fortschritt dieses wunderbaren Teils der Wahrheit der höheren Leitung.”
Als ernste Schüler der Christlichen Wissenschaft streben wir vor allem nach der Erfüllung der Verheißung Christi Jesu: „Wer an mich glaubet, der wird die Werke auch tun, die Ich tue.” Unsre Sünden und Leiden werden nun von der Flut der klaren Überzeugung weggeschwemmt, daß sie keinen Platz in Gottes Schöpfung haben, weil sie Seinem Wesen nicht entsprechen und nur Illusionen des sterblichen Sinnes darstellen. Wenn sie somit als Illusionen klar erkannt worden sind, schwinden sie, wie wir bereits gesehen haben, aus dem menschlichen Bewußtsein, und die Wahrheit hat uns dann frei gemacht.
Wir haben das Recht und die Pflicht, nach dem Beispiel Jesu das Böse aus unserm Leben fernzuhalten und unser Denken stets auf Gott und Seine vollkommene Schöpfung zu richten. Hierin liegt der tiefe Sinn der Worte des Paulus: „Was wahrhaftig ist, ... dem denket nach,” und jener gleichbedeutenden Stelle aus Wissenschaft und Gesundheit (S. 261): „Halte den Gedanken beständig auf das Dauernde, das Gute und das Wahre gerichtet, dann wirst du das Dauernde, das Gute und das Wahre in dem Verhältnis erleben, wie es deine Gedanken beschäftigt.”
