Die scheinbare Beharrlichkeit, mit welcher sich uns Schwierigkeiten in den Weg legen, erscheint uns oft sehr rätselhaft, und wenn wir nicht wachsam sind und uns einer wissenschaftlichen Denkweise befleißigen, fallen wir leicht der Entmutigung zum Opfer. Es ist jedoch kein Grund zum Zweifeln vorhanden. Verschließen wir vielmehr unser Bewußtsein allen Gedanken der Furcht und der Selbstverdammung, und stärken wir uns an den Worten unsrer Führerin: „Nichts Gutes gibt es außer dem Guten, das Gott verleiht” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 275). Die meisten Schwierigkeiten entstehen dadurch, daß wir das „solches alles,” das uns, wie der Meister sagte, „zufallen” wird, als erstes in unserm Bewußtsein hegen, und das Reich Gottes, das auf ewig „am ersten” ist, aus den Augen verlieren.
Eine Demonstration der Wahrheit der Christlichen Wissenschaft bedeutet stets die Offenbarwerdung des Gesetzes und der Herrschaft Gottes sowie die Bloßlegung der Nichtsheit der Materie, d. h. der Nichtsheit ihrer Verlockungen sowohl wie ihres Widerstandes. Es ist somit klar, daß wir die Wirksamkeit unsrer Arbeit von vorneherein beschränken, wenn wir an einem Resultat festhalten, das unsrer Ansicht nach durch unsre Bekräftigung der Wahrheit herbeigeführt werden soll.
Unsre mentale Arbeit bewirkt weiter nichts, als daß sie unser Denken klärt und es uns ermöglicht, uns die Wahrheit zu vergegenwärtigen, die alle Probleme löst. Es gibt kein Problem, das nicht gelöst werden könnte, und zwar kann es nur eine richtige Lösung geben. Die äußerlich befriedigende Lösung ist jedoch unbedeutend im Vergleich zu dem höheren Verständnis des göttlichen Gesetzes, das einem durch die richtige Ausarbeitung des Problems zuteil wird, und das das einzige bleibende Resultat aller in der Wahrheit vollbrachten Arbeit ist.
Läßt man diese Tatsache bei Geschäftsversammlungen einer Kirche oder Vereinigung außer acht, so führt das leicht zu Konfusion und zu dem Glauben an viele Gemüter. Persönliche Anstrengungen und menschliche Pläne mögen die Lösung einer Schwierigkeit bezwecken, ja sie mögen „die Becher und Schüsseln auswendig reinlich” halten; aber solange die Lösung nicht auf Verständnis und Demonstration beruht, ist sie wertlos. Das alte Übel wird sicher früher oder später in irgendeiner andern Form von neuem ausbrechen, es sei denn, man habe es auf die richtige Art und Weise beseitigt. Daraus geht klar hervor, wie notwendig es ist, daß jedes Kirchenmitglied sein Licht rein halte und klar leuchten lasse. Niemand kann in der Geschäftsversammlung Kirchenangelegenheiten wissenschaftlich verhandeln und die Wahrheit erkennen, wenn er sich nicht derart vorbereitet hat, daß er sich von dem Geist Christi leiten läßt.
Worin besteht nun diese Vorbereitung? Natürlich muß ein jeder seine eigne Demonstration machen, und die kommt durch Wiederspiegelung, nie aber durch menschliche Fähigkeiten zustande. Auf der bereits angegebenen Seite von Wissenschaft und Gesundheit sagt Mrs. Eddy: „Keine Weisheit ist weise als Seine Weisheit.” Wer diese Tatsache erkennt, sieht ein, wie nutzlos es ist, zu glauben, die Weisheit verlange, daß etwas mit Gewalt durchgeführt oder durch menschlichen Scharfsinn geleitet werden müsse. Angenommen, etwas, was das Richtige zu sein scheint, werde durch falsche Mittel erlangt. Was ist das Ergebnis? Genau dasselbe wie in dem Fall, wo man Arznei einnimmt, um eine gute Wirkung zu erzeugen, und auf Grund dieser Handlung glaubt, Linderung zu verspüren. Es ist das nur ein stärkerer Glaube an die Materie und ein größerer Widerstand gegenüber den Forderungen der Wahrheit.
Was veranlaßt uns, dem Irrtum mit Irrtum zu begegnen? Gewiß nichts andres als das Vertrauen zu menschlichen Hilfsmitteln und der Mangel an Vertrauen zur Wahrheit. Und wodurch wird das verursacht? In erster Linie durch unsre falsche Denk- und Lebensweise. Wenn wir wirklich das Prinzip unsre Angelegenheiten regieren lassen, und zwar deshalb, weil wir nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, dann sind wir nicht leicht von dem rechten Standpunkt abzubringen. Dieses Verlassen auf das Prinzip hilft uns mehr als alles andre, ein klareres Verständnis von dem Begriff Wiederspiegelung zu erlangen, und dieses Verständnis bringt uns ein solches Maß wahren Reichtums, daß es uns weder nach Stellung noch nach Macht, weder nach menschlichem Beifall noch nach Volksgunst gelüstet. Ebensowenig fürchten wir uns dann, unserm Verständnis von Gottes Gesetz gemäß zu leben, noch ermangeln wir der Zuversicht, die mit wahrer Demut Hand in Hand geht, mit jener Demut, die da weiß, daß wir aus uns selber nichts vermögen, sondern daß „unsere Geschicklichkeit ... von Gott” ist (Zürcher Bibel).
Erhält man die Angabe der zu besprechenden Gegenstände im voraus, so ist es sicherlich töricht gehandelt, wenn man sie einfach beiseite legt und den Zweck der Versammlung unbeachtet läßt. Gehören wir einer Kirche an, so ist es unsre Pflicht, unser Teil zu tun. Niemand kann unsre Arbeit für uns verrichten. Ein gewissenhaftes und beharrliches Studium des Kirchenhandbuchs, das Verlangen, es metaphysisch zu verstehen, das Studium der Kirchensatzungen und der natürliche Wunsch, über alle Punkte in den Schriften Mrs. Eddys Aufklärung zu erlangen — dies sind die Mittel, die uns für die an der Versammlung zu verrichtende Arbeit ausrüsten. Wir wissen das alle ganz gut, so gut, daß wir leicht vergessen, es zu tun. Es scheint so viel leichter, zu sagen: „Ja ich weiß, man sollte diese Dinge eigentlich nicht vernachlässigen; aber ich bin nun einmal etwas saumselig in solchen Dingen,” als aufzuwachen, von dieser Sünde zu lassen und sich der Wahrheit der Worte des Paulus bewußt zu werden: „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus.”
Wenn wir aufhören, an menschliches Unvermögen und an menschliche Tüchtigkeit zu glauben (die nur die beiden Extreme der gleichen Annahme sind), wenn wir es unterlassen, über das zu spekulieren, was zu vollbringen ist, und stets über das bestimmte Etwas, das wir uns wünschen, nachzudenken, dann vernehmen wir die leise Stimme der Wahrheit und lassen uns von ihr leiten; dann wird der einstimmige Beschluß in den Versammlungen auf dem Wirken des Prinzips beruhen, und nicht auf Gleichgültigkeit. Eine weitere Folge wäre ein tieferes Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, Einheit und brüderlichen Liebe unter den Mitgliedern. Diese würden sich nicht mehr vor einander fürchten oder einander mißtrauen, sondern das Ergebnis wäre eine klarere und höhere Auffassung von Gesetz und Ordnung. Dies ist natürlich, recht und in Übereinstimmung mit der Freiheit der Kinder Gottes.
Nichts hilft uns so sehr, Nachsicht zu üben mit unsern Mitmenschen, die mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben, als uns beharrlich mit unsern eignen Problemen zu befassen. Mrs. Eddy macht dies klar, wenn sie sagt: „Wenn ein Mensch anfängt, mit sich selber zu hadern, so hört er auf, mit andern zu hadern” (Message for 1900, S. 8). Mentale Trägheit und gedankenlose Zustimmung führen zu Krittelei und Tadelsucht. Wer jedoch seine Aufgabe ernst nimmt, wird keine Mühe scheuen, sein Teil zu tun, was es auch sei. Er wird bestrebt sein, seinem Mitmenschen in jeder Weise beizustehen — nicht durch blinden Parteigeist, sondern durch eine aufbauende Denkweise. Er wird ihm seine Fehler nicht aufbürden, wie offenkundig sie auch sein mögen, sondern wird sich bewußt werden, daß der Irrtum weder Macht noch Ausdrucksmittel hat und den zu Gottes Bild und Gleichnis geschaffenen Menschen weder täuschen noch regieren kann.
Der wahre Christliche Wissenschafter ist stets bereits, die Freude derer zu teilen, die sich freuen, und sich derer zu erbarmen, die da weinen. Sieht er jemand am Wegesrande liegen, so weiß er, daß es das Werk von Räubern ist, und ist bereit, zu helfen. Das wird ihn ebensowenig von seinem eignen Weg abbringen oder ihn in seiner Arbeit hindern, wie es den guten Samariter abhielt, seiner Beschäftigung nachzugehen und zu besorgen, was er zu besorgen hatte. Wenn wir aufrichtig nach dem Reich Gottes trachten, werden wir gerne jeden Sieg über den Irrtum und jeden Erfolg in der Wahrheit mit unsern Mitmenschen teilen.
Der Sinn des menschlichen Lebens besteht, soweit er von dem Menschen erfaßt werden kann, darin, das Reich Gottes auf Erden zu begründen, d. h. an der Ersetzung der egoistischen, auf Haß und Vergewaltigung basierten, unvernünftigen Einrichtung des Lebens durch eine auf Liebe, Brüderlichkeit, Freiheit und Vernunft gegründete gesellschaftliche Organisation mitzuwirken.
