Das menschliche Gemüt ist beständig für allerlei Einflüsse und Eindrücke empfänglich. Vor dem Erscheinen der Christlichen Wissenschaft schien es nicht möglich, wissenschaftlich zwischen den Eindrücken zu unterscheiden, die wahr und der Fortdauer wert sind, und denjenigen, die unwirklich sind und deshalb als des Weiterbestehens unwert aus dem Bewußtsein ausgeschieden werden müssen. Das sterbliche Gemüt, die Nachbildung des göttlichen Gemüts, setzt das Vorhandensein fünf materieller Sinne voraus. Materielles Wissen beruht demnach auf Beobachtungen, die sich auf das Zeugnis dieser unwirklichen Sinne stützen, und das sterbliche Gemüt kann daher nur solche Eindrücke aufnehmen, für die diese Sinne empfänglich sind. Hieraus erhellt, daß die sterbliche Annahme selber der Urheber der materiellen Eindrücke ist, die sie empfängt.
Diese metaphysische Tatsache läßt erkennen, daß das menschliche Gemüt eines erlösenden geistigen Sinnes bedarf, eines Sinnes, der ganz und gar unabhängig ist von der Materialität und durch den das Bewußtsein 2die Offenbarungen des Wahren und Göttlichen empfangen kann. Mrs. Eddy schreibt auf Seite 214 von Wissenschaft und Gesundheit: „Wenn man begriffen hat, daß der geistige Sinn und nicht der materielle die Eindrücke des Gemüts dem Menschen übermittelt, dann wird das Sein verstanden und als harmonisch erfunden werden.”
Der materielle Sinn sieht und fühlt materielle Erscheinungen, und nichts andres. Die durch diese Erscheinungen hervorgebrachten Eindrücke sind Bilder, die der Annahme entspringen, daß der Mensch materiell und mit physischen Sinnesorganen ausgerüstet sei. Diese trügerischen Erzeugnisse der sinnlichen Wahrnehmung werden leichter überwunden, wenn unser Hauptbestreben auf das Überwinden des Grundirrtums gerichtet ist, nämlich des Glaubens an ein materielles Gemüt. Man kann sich nicht durch eine einzige Anstrengung von dem Bann der Sinneswahrnehmung frei machen, wohl aber kann ein jeder anfangen, sich von Illusionen zu befreien, indem er die erste Lüge des materiellen Sinnes, die er als solche erkennt, zum Schweigen bringt, und dann die zweite, die dritte usw. Dadurch, daß man das materielle Sinnenzeugnis beharrlich umkehrt, wird geistige Wahrnehmung zur Gewohnheit. Diese Umkehrung ist notwendig, denn, wie Paulus sagt: „Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geist Gottes, ... und kann es nicht erkennen; denn es muß geistlich gerichtet sein.”
Der geistige Sinn, die der Seele entspringende Fähigkeit, Gott zu verstehen, hat nur einen Zweck, was das menschliche Gemüt anlangt, nämlich, dieses menschliche Gemüt zu veranlassen, der Intelligenz Raum zu machen, die Gott wiederspiegelt. Mrs. Eddy schreibt: „Dieser Seelen-Sinn kommt zu dem menschlichen Gemüt, wenn das letztere dem göttlichen Gemüt Raum gibt” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 85). Geistige Wahrnehmung muß zur beständigen Tätigkeit werden; denn genau in dem Grade, wie das geistige Schauen beständig wird, macht sich das Bewußtsein von der Materialität frei und wandelt sich die Sinneswahrnehmung der Disharmonie in die tatsächliche Verwirklichung des harmonischen Seins um.
Man muß nicht nur die Sinneseindrücke überwinden, die dem eignen Glauben an ein Dasein in der Materie entspringen, sondern auch jene von außen sich uns aufdrängenden Eindrücke, die der gleiche falsche Glaube bei andern Sterblichen hervorruft. Ob jemand imstande ist, in seinem Ausblick aufs Leben überall die geistige Wiederspiegelung Gottes zu erkennen, oder ob er durch sein Unvermögen, seinen eignen materiellen Sinn zu unterdrücken, den von äußeren Einflüssen verursachten Eindrücken der Unvollkommenheit und des Leids zum Opfer fallen wird — diese Frage entscheidet der Umstand, ob die zur Gewohnheit gewordene Denkrichtung auf die Seite des Geistigen oder auf die Seite des Materiellen neigt. Das Bestreben, das eigne wahre Bewußtsein als das Spiegelbild des Geistes zu sehen, genügt noch nicht, sondern man muß ebenso ernsthaft danach trachten, alle andern Individualitäten so zu sehen wie Gott sie sieht, getrennt von der Materie und ihren Bekundungen von Sünde und Krankheit, denn metaphysische Reinheit kann auf keine andre Weise erlangt werden.
Es bedarf großer Ehrlichkeit gegen sich selbst, während dieses Übergangs von einer materiellen Auffassung vom Sein zu einer zur Gewohnheit gewordenen geistigen Wahrnehmung seinen irrigen Annahmen den einzigen Namen zu geben, mit dem man sie bezeichnen kann, nachdem man ihre falsche Rechtfertigung erkannt hat. Aber ist nicht der einzige Grund, warum man sich in der geistigen Wahrnehmung übt, der, aus einem falschen materiellen Bewußtseinszustand herauszukommen? Der Metaphysiker ist in erster Linie darauf bedacht, seinen eignen Glauben an ein materiellen Einflüssen ausgesetztes Selbst zu überwinden, und bekümmert sich weniger darum, wie andre Leute dieses Selbst behandeln. Geht er in seiner Arbeit wissenschaftlich vor, so wird er nicht nur imstande sein, seinen Glauben an Empfindsamkeit gegenüber dem Irrtum zu überwinden, sondern auch seinen Glauben an die Wirklichkeit der von andern Sterblichen bekundeten bösen Eigenschaften und Handlungen. Mit andern Worten, er wird alle Formen der Disharmonie als Kundwerdungen des einen allgemeinen Glaubens an ein Dasein in der Materie erkennen; er wird einsehen, daß diese Kundwerdungen nie etwas andres sind als Trugbilder, ebenso falsch wie das Bewußtsein, das sie hervorbringt.
Jesus, der Wegweiser, war vermöge seiner geistigen Erkenntnis imstande, von dem Sinnestraum der materiellen Welt unberührt und unbeeinflußt zu bleiben. Von der Höhe seiner geistigen Erleuchtung aus vernichtete er in andern den Glauben an Leben in der Materie. Solches konnte er deshalb für seine Mitmenschen tun, weil er in der Wüste die völlige Unwirklichkeit des Zeugnisses der materiellen Sinne zu seiner Zufriedenheit ein für allemal bewiesen hatte. Alle, die Sünde und Krankheit überwinden wollen, wie Jesus sie überwand, müssen den gleichen klaren Blick erstreben, den er besaß.
Wenn sich bei Christlichen Wissenschaftern die Heilung von Krankheit oder Disharmonie nur langsam vollzieht, wie dies dann und wann vorkommt, so ist der Grund davon in vielen Fällen auf das verkehrte Streben zurückzuführen, die Bekundungen der materiellen Sinne durch deren Vergeistigung zu bessern. Das, was kein wirkliches Dasein hat, kann nicht wohl gebessert werden. Eine christlich-wissenschaftliche Demonstration hängt in keiner Weise von einem Zustand ab, der von den materiellen Sinnen wahrgenommen oder von ihnen bezeugt wird; vielmehr hebt sie den materiellen Sinn auf. Jesus, der Christus, ersetzte den materiellen Sinn durch den geistigen Sinn, und durch das Erwachen des schlummernden geistigen Sinnes sieht dann der Mensch Harmonie, wo er früher die falschen Eindrücke des materiellen Sinnes gesehen hatte. Der Mann, der von angeborener Blindheit geheilt wurde, bezeugte: „Eines weiß ich wohl, daß ich blind war und bin nun sehend.”
In keiner der von Jesu vollbrachten augenblicklichen Heilungen war vom Standpunkt des Sinnenzeugnisses aus die plötzliche physische Umwandlung möglich; aber die geistigen Sinne kehren sich nicht an die sterblichen Zeitbegriffe. Jesus bewies, daß Zeit, Raum und lebendige Materie unwirkliche subjektive Zustände eines unwirklichen sterblichen Gemüts sind; daß ein augenblicklicher Wechsel von dem materiellen Augenschein zur geistigen Wahrnehmung der Wahrheit möglich ist. Diese Umwandlung in der Wahrnehmung ist es, was wir alle wünschen und erstreben müssen. Ob nun in einem gegebenen Fall die materiellen Eindrücke augenblicklich oder nach und nach von den durch die geistigen Sinne wahrgenommenen göttlichen Eindrücken des Gemüts verdrängt werden — sicher ist, daß die Disharmonie, die nur von den physischen Sinnen wahrgenommen wird, unvermeidlich verschwinden muß, wenn jener Wechsel eintritt.
Der materielle Sinn behauptet, er sehe einen verkrüppelten, kranken oder unangenehmen Menschen in der Materie; der geistige Sinn sieht das Spiegelbild Gottes. Der geistige Sinn ist das eine Mittel, vermöge dessen sich das Bewußtsein zur ewigen Wahrheit emporschwingt. Mrs. Eddy schreibt auf Seite 531 von Wissenschaft und Gesundheit: „Das menschliche Gemüt wird sich einst über den ganzen materiellen und physischen Sinn erheben, denselben gegen die geistige Wahrnehmung und menschliche Begriffe gegen das göttliche Bewußtsein austauschen. Dann wird der Mensch seine gottgegebene Herrschaft und sein gottgebenes Sein erkennen.”