Skip to main content Skip to search Skip to header Skip to footer

„Fürchtet euch nicht”

Aus der Oktober 1917-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Als einem ängstlich wartenden Volk die Kunde wurde, daß es nun tatsächlich in die Lage gekommen war, der es so lange ernstlich gesucht hatte zu entgehen, rief ein Christlicher Wissenschafter — vielleicht ihrer viele — schmerzbewegt aus: „Sind denn unsre Gebete vergeblich? Haben sich all die Wahrheitsbekräftigungen, die während der letzten Monate aus dem Munde unzähliger Menschen kamen, als unwirksam erwiesen? Soll nach Aufbietung aller Kräfte des Denkens, um nicht in diesen Kampf hineingezogen zu werden, der Irrtum schließlich doch die Oberhand gewinnen?”

Zunächst nun die Frage: sind unsre Gebete denn wirklich vergeblich gewesen? Die Erhörung hat allerdings nicht in der Weise stattgefunden, wie sie vielleicht die meisten von uns erwartet haben. Ist dies aber nicht fast immer der Fall? Wenn man beim Beten die Art und Weise der Erhörung zu bestimmen sucht, so ist das nach christlich-wissenschaftlicher Anschauung überhaupt kein Gebet. Wir wollen unsre früheren Gebete mit Rücksicht hierauf einer ehrlichen Prüfung unterziehen und uns einmal klar machen, worum wir eigentlich gebetet haben. Haben wir gebetet, daß der Wille Gottes zu Seiner Zeit und in Seiner Weise geschehe, daß Sein Wort die Liebe der ganzen Menschheit bereichere und sie beherrsche (siehe Kirchenhandbuch, Art. VIII, Abschn. 4), oder haben wir nur um Frieden gebetet? Was aber Frieden genannt wird, ist bisweilen nur der betäubende Trank des sterblichen Gemüts, mit dem uns dieses in den gewünschten Schlafzustand versetzt. Einen solchen Frieden hätte Jesus haben können, wenn er ihn gewollt hätte. Niemand hat aber je im fleischlichen Gemüt einen solchen Aufruhr verursacht und solche Gefühle des Zorns erregt wie er, aus dem einfachen Grunde, weil kein andrer das falsche Gefühl des Friedens, den die Menschen um ihn her zum Ausdruck brachten, je so beharrlich gestört hat.

Die kämpfenden Völker unsrer Zeit bekunden jene Unruhe und Verwirrung, die eine Begleiterscheinung des Übergangs vom Alten zum Neuen ist, und zwar sind in dieser Beziehung die Erfahrungen des einzelnen und die der Gesamtheit die gleichen. Ist die heutige Zeit deshalb eine Schreckenszeit, weil eine Umwälzung stattfindet, wie sie die Menschheit noch nie gesehen hat? Ist sie nicht vielmehr eine Zeit, in der man den Blick über das materielle Zeugnis des Augenblicks erheben und das erkennen sollte, was die ganze Welt später sehen wird, wenn der Donner der Geschütze aufgehört und der Rauch sich verzogen hat, nämlich, daß die Wahrheit dazu bestimmt ist, alle Völker der Erde aus ihrem langen Traum der Bedrückung zu erwecken? Werden somit unsre Gebete nicht erhört? Ganz gewiß! Versagt hat nur unser irregeführter Eifer und der Glaube, daß unsre Erkenntnis der Sachlage klar genug sei, um der unendlichen Intelligenz einen Rat erteilen zu dürfen.

Betete Jesus jemals, ohne erhört zu werden? Nein, und zwar deshalb nicht, weil er zu beten verstand. Selbst als er am Kreuze hing, suchte er nicht die Art der Erhörung zu bestimmen, bat er nicht, befreit zu werden. Angenommen, die heutigen Christlichen Wissenschafter wären damals dabei gewesen. Hätten sie nicht ebenso ernstlich gebetet, Jesus möchte nicht gekreuzigt werden, wie wir gebetet haben, daß es keinen Krieg geben möchte? Höchstwahrscheinlich, ausgenommen die in der Christlichen Wissenschaft weit Vorgeschrittenen. Wenn aber diese Gebete erhört worden wären, hätte dann Jesus seine höchste Demonstration vollbringen können?

Mrs. Eddy fragt: „War es gerecht, daß Jesus litt? Nein; aber es war unvermeidlich; denn sonst hätte er uns den Weg und die Macht der Wahrheit nicht zeigen können” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 40). Ist es gerecht, Millionen von Menschen in tödlichem Kampf einander gegenüberzustellen? Nein; aber zu Zeiten erscheint dies unvermeidlich. Es gibt wertvollere Dinge als das menschliche Leben, wie Jesus bewies. Wenn es kein Golgatha gegeben hätte, dann hätte es auch keinen Auferstehungsmorgen gegeben. Die heutigen Anhänger Jesu sollten daher Mut fassen. Wir wollen die Zustände, die sich uns bieten, nicht so ansehen, als ob unsre Gebete nicht erhört worden seien, sondern sie sollten uns vielmehr ein Zeichen sein, daß „das Erste” im prophetischen Gesicht des Johannes schon angefangen hat zu vergehen. Statt bei der Betrachtung gegenwärtiger Schrecklichkeiten zu verweilen, wollen wir vorwärtsblicken mit jenem klar auf das Gute gerichteten, erwartungsvollen Glauben, den die Christliche Wissenschaft lehrt. Wir wollen erkennen, was die Zukunft unter ihren Flügeln für uns alle birgt.

Wir können uns jetzt schon freuen, wenn wir bedenken, was unter unsern Brüdern in jenem großen Volk vollbracht worden ist, das erst vor kurzem von autokratischer Herrschaft befreit wurde. Im Glühofen des gegenwärtigen Kampfes ist in einer einzigen Nacht hinweggeschmolzen, was unter gewöhnlichen Umständen nur einem langsamen, jahrhundertelangen Prozeß gewichen wäre. Angenommen, unser Gebet um Friede wäre vor einem Jahre erhört worden: würden dann nicht vielleicht Millionen unsrer Mitmenschen auf ein weiteres Menschenalter hinaus in einem Zustand der Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit verbleiben? So beklagenswert die Vernichtung menschlichen Lebens und Besitzes auch sein mag, so beseitigt doch das, was „Krieg” genannt wird, auch große Mißstände. Er schafft Einrichtungen aus der Welt, die wegen ihres langen Bestehens mit Ehrfurcht betrachtet werden, die aber auf Ungerechtigkeit, Tyrannei, despotischer Gewalt und geistiger Knechtschaft beruhen; er überwindet die Macht, die vor Recht geht. Wir haben es also nicht mit einem Kampf zwischen Völkern zu tun, sondern mit einem über die ganze Welt verbreiteten Harmagedon, welches das Falsche und Unwahre in der läuternden Glut zerstört.

Welcher Phönix aus der Asche erstehen wird, vermag zur Zeit niemand zu sagen, doch haben wir bereits Lichtblicke der vielen Änderungen erhalten, die eintreten werden, wenn „das Getümmel und Geschrei” vorüber ist. Zunächst ist die Hoffnung nicht unbegründet, daß die Schrecklichkeiten, die weitreichenden Folgen des gegenwärtigen Kampfes der Welt derart zum Bewußtsein kommen werden, daß eine allgemeine Abrüstung stattfinden wird. Dadurch würden der Welt Millionen von Menschen als Produzenten zugeführt, die vormals nur Konsumenten waren. Die unglaublichen Summen, die zu ihrer Erhaltung verausgabt werden, würden somit zur Hebung der Menschheit statt zu ihrer Vernichtung verwandt.

Fernet bieten die Ereignisse, die wir jetzt erleben, noch nie dagewesene Gelegenheiten zur Ausgleichung der Stände, zur Schlichtung alter Fehden und Beseitigung früherer Mißstände. Es wird leichter sein, Meinungsverschiedenheiten zu vergessen, eigennütziges Streben zu unterdrücken, Bestechungsversuche abzuweisen, politischen Hader zu vermeiden, kurz, sich als guter Bürger zu beweisen. Das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital wird ein besseres werden, die Frau wird bei der Lösung der wirtschaftlichen Fragen die ihr gebührende Stellung einnehmen, die Mäßigkeitsbestrebungen werden neue Anregung erhalten, bisher ungeahnte Quellen zur Hebung der Industrie und zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse werden sich erschließen, der Stolz auf den Mammon wird gedemütigt werden, und reich und arm werden nebeneinander gehen.

An erste Stelle tritt jedoch der Umstand, daß eine Welt, die vor so gewaltigen Aufgaben steht, anfangen muß, in ganz andrer Weise als der bisherigen zu denken. In Zeiten des Wohlergehens halten die meisten Menschen die Religion ihrer Väter für gut genug. Wenn aber ein Platzregen fällt und die Winde und das Gewässer an das Haus stoßen — an das Bewußtsein —,das ist die eigentliche Prüfung. Ist das Haus auf den Felsen gegründet, auf die Wahrheit, so bleibt es stehen; beruht es aber auf Theorien, auf Überlieferungen und Kirchentum, auf Dogmen, blindem Glauben, Unwissenheit oder Aberglauben, so stürzt es ein. In den Schützengräben ist eine neue Religion im Werden begriffen — man nenne sie wie man wolle. Aus dem innersten Menschenherzen drängen Fragen empor, die sich nicht mehr durch die frühere ausweichende Antwort: „Das können und dürfen wir nicht wissen,” beschwichtigen lassen. In Zeiten der Not gibt sich das Herz nicht mehr zufrieden mit der stumpfsinnigen Philosophie des morgenländischen Dichters: „Er [Gott] weiß es alles, Er weiß es, Er weiß es.” Wir haben als Gottes Kinder ebenfalls das Recht zu wissen. Unter den herrschenden Umständen wird das Gemüt wie nie zuvor empfänglich für die sanfte Stimme der Wahrheit, die die Antwort auf unsre Fragen bringt. In den Stunden zwischen der Mitternachtszeit und dem Morgengrauen hat so mancher in der Fremde unter dem Himmelszelt den Gott gefunden, den er daheim vergeblich gesucht hatte, der ihm aber, seiner harrend, stets nahe gewesen war.

Verlohnt sich demnach nicht der gegenwärtige Kampf? Gibt es denn etwas in der Welt, was sich mit dem Erkennen Gottes vergleichen ließe, eines Gottes, der nicht „nach väterlicher Weise” waltet, sondern der Seine eignen weisen Pläne auf Seine eigne weise Art durchführt und den wir erkennen, lieben und verstehen können? Wir wollen also nicht erschrecken, selbst angesichts des Schlimmsten, was das sterbliche Gemüt hervorbringen mag. Laßt uns in den Zeichen dieser Zeit eine Verheißung besserer Dinge sehen! Laßt uns hoffnungsvoll und festen Mutes auf das Morgengrauen harren! Das Tagesgestirn geht sicherlich an jenem ersehnten Morgen auf, der den dauernden Weltfrieden bringt — nicht weil die Völker auf Erden in stumpfer Zufriedenheit, halb betäubt, dahinleben, sondern weil sie endlich erwacht sind.

Wenn Sie mehr Inhalte wie diese erforschen möchten, können Sie sich für wöchentliche Herold-Nachrichten anmelden. Sie erhalten Artikel, Audioaufnahmen und Ankündigungen direkt per WhatsApp oder E-Mail. 

Anmelden

Mehr aus dieser Ausgabe / Oktober 1917

  

Die Mission des Herolds

„... die allumfassende Wirksamkeit und Verfügbarkeit der Wahrheit zu verkünden ...“

                                                                                                                            Mary Baker Eddy

Nähere Informationen über den Herold und seine Mission.