Anmaßung, Eigenliebe und Stolz auf Weltweisheit werden gewöhnlich als die einzigen Irrtümer angesehen, die einen Menschen von der Verheißung der Seligpreisung ausschließen: „Selig sind die Sanftmütigen.” Daher hat sich ein Begriff von Sanftmut und Demut breit gemacht, welcher beschränkter ist als der in der Bibel erläuterte. Allerdings kann einer, der sich diesen Irrtümern hingibt, nicht wahre Demut zum Ausdruck bringen; aber der Irrtum bedient sich noch andrer Mittel, um uns des Schatzes der Demut zu berauben. Eins dieser Mittel ist die Furcht. Zu den vielen Fehlern, die uns die Christliche Wissenschaft überwinden hilft, gehört auch falsche Demut, und der falschen Demut liegt gewöhnlich die Angst vor einem entscheidenden Schritt vorwärts zugrunde, wie tief sie auch im Bewußtsein verborgen sein mag.
Mrs. Eddy schreibt auf Seite 258 von Wissenschaft und Gesundheit: „Die menschlichen Fähigkeiten erweitern und vervollkommnen sich in dem Verhältnis, wie die Menschheit den wahren Begriff vom Menschen und von Gott gewinnt. ... Durch den geistigen Sinn kannst du das Herz der Gottheit erkennen und somit den Gattungsnamen Mensch in der Wissenschaft zu begreifen anfangen.” Den geistigen Begriff vom Sein erlangt man dadurch, daß man sich weigert, den materiellen Begriff anzuerkennen, der uns glauben machen möchte, der Mensch sei nicht imstande, die ihm aufgetragene Arbeit zu verrichten. Hier vernehmen wir die sanfte Stimme der Wahrheit: „Der Sohn kann nichts von ihm selber tun, sondern was er siehet den Vater tun.” Und wissen wir nicht, daß bei Gott alle Dinge möglich sind?
Als Moses aufgefordert wurde, sein Volk aus der Knechtschaft Ägyptens in jene Freiheit zu führen, die, wie er erkannte, des Menschen göttliches Erbrecht ist, sagte er anfangs, er sei dieser Aufgabe nicht gewachsen. Er meinte, wenn er auch gehorchte und dem Volk seine Hilfe anböte, so würde dieses doch nicht glauben, daß Gott ihn gesandt habe; das Volk sei von dem Joch, unter dem es arbeitete, und von der Materialität seiner Lebensweise in Ägypten so mesmerisiert, daß es sogar das Wesen Gottes und Seine Allmacht vergessen habe. Diese Einflüsterungen des Irrtums mußten erst in Mose eignem Bewußtsein überwunden werden, ehe er bereit war, sich an die große Aufgabe zu machen; aber nach der erhabenen Offenbarung vor dem flammenden Busch, der Offenbarung von der Allmacht und Allgegenwart des großen „Ich bin” (Zürcher Bibel), des höchsten Wesens, war er imstande, zuversichtlich vorwärts zu schreiten, in der Gewißheit, daß die Idee Gottes Seine Macht und Weisheit wiederspiegelt.
Eine der Bibelstellen, wo von der Sanftmut die Rede ist, findet sich im zwölften Kapitel des vierten Buchs Mose, wo es heißt: „Moses war ein sehr sanftmütiger Mann” (Zürcher Bibel). Es ist interessant, den damit zusammenhängenden Vorfall näher ins Auge zu fassen. Als nämlich Moses sein Volk aus der Knechtschaft Ägyptens befreit hatte und es nunmehr durch die Wüste führte, wurden Mirjam und Aaron eifersüchtig auf ihn. Sie murrten gegen ihn, und infolgedessen wurde Mirjam aussätzig. Hier trat nun Mose wahre Sanftmut von neuem zutage, denn vermöge seines Sichbewußtwerdens der heilenden Kraft Gottes wurde Mirjam von dieser schrecklichen Krankheit geheilt. Nicht das geringste Zorngefühl, kein Gedanke, daß Mirjam ihm Unrecht getan und ihre Strafe verdient habe, drang in sein Bewußtsein. Nein, sein selbstloses Gebet war: „Ach Gott, heile sie!”
Die Aufgabe, als Nachfolger des Moses die Kinder Israel ins gelobte Land zu bringen, muß Josua recht schwierig vorgekommen sein, besonders da er mit dem früheren Führer in so enger Beziehung gestanden hatte und dessen unerschütterliche Treue gegen das göttliche Prinzip aus eigner Erfahrung kannte. Aber er machte sich furchtlos ans Werk. In wahrer Demut nahm er die Verheißung an: „Alle Stätten, darauf eure Fußsohlen treten werden, hab ich euch gegeben, wie ich Mose geredet habe.” Der demütige Sinn war es, der so viele Gestalten, von denen wir in der Bibel lesen, zu großen Charakteren machte, und der Umstand, daß die Christliche Wissenschaft die wahre Demut wiederum offenbart, ermöglicht es der Menschheit in unsrer Zeit, der verheißenen Segnungen teilhaftig zu werden.
Wohl mag der Irrtum uns zu verhindern suchen, unsre von Gott ererbte Freiheit zu erlangen, indem er uns einflüstert, wir sollten diese oder jene schwierige Arbeit nicht unternehmen; aber wenn wir in unserm Verlangen, recht zu tun, aufrichtig sind, so können wir, wie Josua, vertrauensvoll voranschreiten, in dem Bewußtsein, daß wir die gleiche Verheißung haben wie er: „Siehe, ich habe dir geboten, daß du getrost und freudig seiest. Laß dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der Herr, dein Gott, ist mit dir in allem, das du tun wirst.”
Haben wir einmal den entscheidenden Schritt getan, so sehen wir bald ein, daß des Menschen Fähigkeiten nicht vom Gehirn abhängen, sondern von seinem Festhalten an der Wahrheit des Seins — von seinem täglichen Sichbewußtwerden der Wahrheit, daß der Mensch die unendliche Wiederspiegelung des unendlichen Gemüts ist, frei von allen materiellen Annahmen, allein dem göttlichen Gesetz des Lebens Untertan, und daß wir mit allen unsern Mitmenschen Teilhaber sind an dem unbeschränkten Reichtum der Kinder Gottes. Wenn wir uns weigern, unsrer Verantwortung aus dem Wege zu gehen, so ist das in der Tat wahre Demut. Und wenn wir später auf die Vergangenheit zurückblicken, sehen wir ein, wie gut es war, daß wir gezwungen wurden, das zu tun, was uns die göttliche Liebe und Weisheit zur Förderung unsres geistigen Wachstums zugedacht hatte.
In einer Sonntagsschulklasse der Christlichen Wissenschaft wurde einst folgende Frage gestellt: „Wie soll man sich dem gegenüber verhalten, der einem im Geschäft oder in der Schule einen Verweis erteilt?” Da niemand antwortete, erklärte der Lehrer, der wahre Christ könne nichts als Dankbarkeit empfinden, sei es dafür, daß er auf einen Fehler aufmerksam gemacht worden ist, oder, falls der Verweis ungerechtfertigt war, dafür, daß er dank seiner Erkenntnis von der Wahrheit imstande ist, Gerechtigkeit zu demonstrieren. Schreiberin dieses hat die Richtigkeit dieser Erklärung wiederholt an sich selber erfahren. Wer den persönlichen Sinn soweit ablegen kann, daß er eine solche mentale Stellung erreicht, verliert alles Gefühl des Grolls gegenüber seinen Mitmenschen, ja alle Furcht vor ihnen; und an Stelle des Grolls und der Furcht tritt die Gewißheit, „daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen.” Es mag vorkommen, daß wir von der scheinbaren Wirklichkeit der Ungerechtigkeit sehr bedrückt werden; aber das aufrichtige Bestreben, dankbar zu sein für die Erkenntnis, daß „die Umkehrung des Irrtums ... wahr” ist (Wissenschaft und Gesundheit, S. 442), heilt unsre verletzten Gefühle, und Furcht und Groll werden durch das Vertrauen auf die Allmacht des Guten ersetzt.
Die Quelle der Gerechtigkeit und alles Weltensegens, die Quelle der Liebe und des Brudersinnes der Menschheit, diese beruht auf dem großen Gedanken der Religion, daß wir Gottes Kinder sind. ... In diesem großen Gedanken liegt immer der Geist aller wahren Staatsweisheit, die reinen Volkssegen sucht.