In der Bibel ist oft von Engeln die Rede. Nun ist im Laufe der Zeit unter den Menschen die Anschauung vorherrschend geworden, daß die Bezeichnung Engel etwas zum mindesten Übernatürliches bedeute, wenn nicht gar etwas, was nur in der Phantasie besteht. Die in der Bibel berichteten Geschehnisse, wo Engel beteiligt sind, werden von manchen mit abergläubischer Scheu und Ehrfurcht angesehen. Viele verhalten sich skeptisch und betrachten solche Geschichten als Märchen, für andre haben sie eine allegorische Bedeutung. Durch die Kunst ist unser Auge gewöhnt worden, die Engel als geflügelte Wesen in weiß schimmernden Gewändern dargestellt zu sehen. Die Dichtkunst hat diese Anschauung erweitert, indem sie Wesen darstellt, die zwar den Menschen gleichen, aber durch ihre Rechtschaffenheit und ihre guten Taten Vollkommenheit erlangt haben und hoch über den Menschen stehen.
Mrs. Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, bietet nun mit der Geradheit und Einfachheit, die alle ihre Schriften auszeichnet, in Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift eine neue und befriedigende Anschauung über das Wesen der Engel. Auf Seite 298 erklärt sie unter anderm: „Engel sind reine Gedanken von Gott, mit Wahrheit und Liebe beschwingt,” und auf Seite 581 (Kapitel Glossarium) findet sich die weitere Erklärung: „Gottes Gedanken, die zum Menschen kommen; geistige Eingebungen, die rein und vollkommen sind; die Inspiration der Güte, Reinheit und Unsterblichkeit, allem Bösen, aller Sinnlichkeit und aller Sterblichkeit entgegenwirkend.”
Diese Anschauung vom Wesen der Engel läßt die Bibelberichte über Engelerscheinungen in neuem Lichte erscheinen. Aus unsern Studien wissen wir, daß im Morgenlande die Bildersprache und Symbolik heimisch ist. Jesus selbst sprach oft in Gleichnissen. Der Ungelehrte und das Kind erfassen geistige Wahrheiten leicht durch das Mittel der Allegorie, durch die Fabel und das Gleichnis; aber auch die Vorstellungskraft des Gebildeten und des reifen Denkers wird durch diese seit alters gebrauchte Redeform und mündliche Erzählungsweise angeregt. Unter den Zuhörern Jesu waren ohne Zweifel viele, auf deren Gemüter seine Wortgemälde einen mehr oder weniger dauernden Eindruck hinterließen und zugleich das Denken anregten. Die Verfasser der biblischen Bücher folgten also nur dem Schriftbrauch ihrer Zeit, ja aller Zeiten; denn wenden die Schriftsteller nicht auch heutzutage bildliche Ausdrücke, Gleichnisse und andre künstlerische Redeformen an?
Im 22. Kapitel des vierten Buchs Mose lesen wir, daß Bileam auf einer Eselin Balak entgegenritt und dadurch dem Befehl Gottes zuwiderhandelte. Unterwegs beunruhigte ihn wohl das Bewußtsein, daß er gegen Gott ungehorsam war. Nun ist es sehr leicht denkbar, daß sich sein mentaler Zustand der Eselin mitteilte und daß das Tier widerspenstig wurde, als ob ihr ein Hindernis im Weg stünde; und es ist sehr naheliegend, daß der Erzähler das Gebaren des Tieres in die Sprache umsetzte, da ja Taten lauter reden als Worte. So haben wir also die Erzählung von der Eselin, die „den Engel des Herrn im Wege stehen” sah und nicht vorwärts wollte, obgleich sie ihr Herr schlug, und die zu ihm sprach und ihm seine Grausamkeit vorhielt, bis schließlich Bileams Augen geöffnet wurden und auch er den Engel sah, der auf dem Wege stand und ihn warnte. War nicht dieser „Engel des Herrn” einer jener „reinen Gedanken von Gott, mit Wahrheit und Liebe beschwingt” ? War er nicht „die Inspiration der Güte, Reinheit und Unsterblichkeit, ... allem Bösen ... entgegenwirkend” ?
In ähnlicher Weise können wir jede in der Bibel berichtete Begebenheit auslegen, wo von dem Erscheinen eines Engels die Rede ist. Diese geistigen Besucher haben dann nichts Übernatürliches mehr, und das abergläubische Element schwindet aus der Erzählung. Als unpersönliche Ideen Gottes übertreffen die Engel an Schönheit die körperlichen Formen, die ihnen Künstler und Dichter geben. Überdies gewinnen sie an göttlicher Bedeutung und Kraft in dem Maße, wie die ihnen menschlicherseits zugeschriebenen Eigenschaften wegfallen.
Wohl eins der eindruckvollsten Beispiele von dem Erscheinen eines Engels findet sich in dem Bericht von der Auferstehung. Die Frauen, die mit Jesus gewesen waren, seine Werke kannten und an ihm einen Freund gehabt hatten, gingen schmerzgebeugt mit ihrer Gabe an duftender Spezerei zum Grabe. Als sie hinkamen, siehe, da war der Stein weggewälzt, und sie sahen einen Engel, der ihnen sagte, Jesus sei auferstanden und vor ihnen nach Galiläa gegangen, wo sie ihn später sehen würden. Diese geistige Intuition — als solche faßt Mrs. Eddy den Engel auf — verlieh ihnen Mut und Kraft. Ihre Trauer wurde in Freude verwandelt, und sie eilten, um Jesus zu finden. Ihr Herz erhob sich und war frei von dem schweren Kummer, der es bedrückt hatte. So können auch wir heutzutage trotz der scheinbaren Trennung von unsern Lieben ein Gefühl der Erhebung, der erneuten Kraft erlangen, in dem Bewußtsein, daß der Tod nicht wirklich, sondern nur eine sterbliche Erscheinungsform ist, denn das wahre Leben ist geistig und nicht materiell, ewig und nicht zeitlich.
Handelt es sich hier nicht um Engel in dem oben dargelegten Sinn des Wortes, Engel, die am Eingang eines Grabes erscheinen, das wir auf ewig verschlossen und versiegelt glaubten? Wir wenden uns vom irdischen Grabe ab und heben unsre Augen auf zu den Bergen, von welchen uns Hilfe kommt. Mrs. Eddy sagt zur weiteren Erläuterung ihrer Anschauung von dem Begriff Engel: „Meine Engel sind erhabene Gedanken, die an der Pforte eines Grabes erscheinen, in welches die menschliche Annahme ihre teuersten irdischen Hoffnungen gelegt hat.” Sie „weisen ... aufwärts ... zu höheren Idealen des Lebens und dessen Freuden” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 299).
Und dann der Bericht über die Versuchung Jesu in der Wüste, wo die listige Einflüsterung kam, er solle sein Verständnis gebrauchen, um Brot aus Steinen zu machen; er solle sich von des Tempels Zinne herabwerfen, um Gottes Verheißung zu erproben, daß Engel ihn vor Gefahr behüten würden; er solle vor dem Teufel (dem Bösen) niederfallen und ihn anbeten, um dafür die Reiche der Welt „und ihre Herrlichkeit” zu erhalten. Doch Jesus begegnete diesen Versuchungen vermöge seiner hohen geistigen Erkenntnis mit entsprechenden Schriftworten; er wies ein für allemal die materiellen Lockungen von sich. Der Verfasser eines der Evangelien beschließt den Bericht dieser Erfahrung mit den Worten: „Da verließ ihn der Teufel; und siehe, da traten die Engel zu ihm und dieneten ihm.”
Bietet nicht das Erdenleben eines jeden Wahrheitssuchers ganz Ähnliches? Wenn wir an einen mentalen oder geistigen Entscheidungspunkt kommen, wie es bei einem jeden früher oder später geschieht, können wir dann nicht obiges Begebnis auf uns anwenden? Sehen wir uns nicht allein in der Wüste der materiellen Annahme, hungrig und der Versuchung ausgesetzt, einen verkehrten Gebrauch von unsrer gottverliehenen Herrschaft über die materielle Welt zu machen? Sehen wir uns nicht von innen und von außen gedrängt, eine Stellung einzunehmen, für die wir nicht das nötige geistige Verständnis haben? Werden wir nicht versucht, uns über materielle Zustände hinwegzusetzen, die wir auf unsrer gegenwärtigen Fortschrittsstufe „jetzt also sein” lassen sollten — versucht, die Elemente ungerechtfertigter- und unnötigerweise oder aus Prahlsucht herauszufordern, weil ja der Mensch geistig sei, im Bilde und Gleichnis Gottes geschaffen, und weil die Verheißung laute: „Er hat seinen Engeln befohlen über dir, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen”? Sehen wir uns nicht der Versuchung ausgesetzt, mit dem Bösen einen Kompromiß zu schließen, um einen scheinbaren Gewinn zu erzielen, bestehe er in Reichtum oder in der Gelegenheit, uns den sogenannten materiellen Genüssen des Geschmacks, des Geruchs, des Gehörs, des Gesichts oder des Gefühls hinzugeben? Wenn dann die Entscheidung getroffen ist und wir uns in treuer Gesinnung über die listigen Suggestionen des sterblichen Sinnes erhoben haben, dann kommen Engel — reine Gedanken, erhabene Eingebungen — und dienen uns, wie sie einst dem Meister dienten.
Versuchungen bleiben nicht aus. Wir kämpfen, wir werden vielleicht wankend. Wir überlegen und wägen die verschiedenen Arten, wie wir handeln können. Wenn wir einen materiellen Weg einschlagen, mögen wir die Mittel erlangen, uns Genüsse zu verschaffen, finden aber sehr oft, daß das Erlangte unsre Erwartungen bitter getäuscht hat. Vielleicht glauben wir, unser größtes Glück in der Befriedigung der physischen Sinne zu finden, sehen uns aber der Vorstellung von moralischem und körperlichem Ruin gegenüber. Oder, wenn wir es darauf ankommen lassen — vielleicht steht sogar die Vorstellung des menschlichen Lebens auf dem Spiel —, so mögen wir finden, daß wir unsre eigne Seele verloren haben, unser Bewußtsein vom wahrhaft Höchsten und Besten. Wenn wir über unsre Mitmenschen Gewalt zu erlangen suchen, wenn wir, von dem Wein der Herrschaft berauscht und unempfänglich für die Gefühle der Menschlichkeit, Barmherzigkeit und Nächstenliebe, unsern Blick mit Verlangen auf ein materielles Ziel richten, und auf das Erreichen desselben Zeit und Mühe verwenden, so werden wir einen Mißerfolg erleben. Unsre Freude wandelt sich in Schmerz, und unsre Hoffnung wird zu Schanden. In einem jeden solchen Fall haben wir unsre höchsten Hoffnungen in eine Gruft gelegt.
Aber wie in der Erzählung des Evangeliums, so ist auch für uns nicht alles verloren, denn bei der Betrachtung dieser Begräbnisstätte wird unser geistiges Auge geöffnet, so daß wir Gottes dienstbare Engel sehen, die zu Gott, ihrem Ursprung, emporweisen. Wenden wir uns ehrlich Gott, dem Guten, zu, mit dem aufrichtigen Verlangen nach geistiger Führung, so werden wir sicher den Sieg davontragen.
Es hat jemand gesagt, der Mensch steige auf den Stufen seiner toten Ichbegriffe zu höheren Dingen empor. Gleichviel wie traurig unsre Vergangenheit, wie zahlreich unsre Fehler, wie häufig unsre Fehlschläge, wie schwarz unsre Sünde — es bleibt uns der frohe Gedanke, daß wir, wenn wir nur wollen, all diese materiellen Vorstellungen begraben und die Kraft, die Stärke und den Mut erlangen können, emporzugreifen nach den geistigen Segnungen, die unsrer harren. Das einzige Erfordernis ist ein ehrliches Herz, das tiefe Sehnen nach einer volleren Gotteserkenntnis, ein Hungern und Dürsten nach Gerechtigkeit. Wenn wir am Rechten festhalten, soweit wir es erkennen, dann können wir nicht wirklich fehlgehen. Von edlen Wünschen erfüllt können wir von neuem anfangen, unsre Liebe auf geistige Dinge setzen, auf alles, was wahr, ehrlich, gerecht, keusch, lieblich ist und wohl lautet. Wer um Führung, Ausdauer und Fortschritt zu Gott emporschaut, kann sich über die Vorstellungen von Sünde, Krankheit und Tod erheben durch die Vergegenwärtigung, daß Gottes Augen rein sind, daß sie Übels nicht sehen mögen, daß Er alle unsre Gebrechen heilt und keinen Gefallen hat „am Tod des Sterbenden.”
Befinden wir uns in den Banden einer Sünde, so können wir Mut schöpfen aus den Worten Jesu an das sündige Weib: „So verdamme Ich dich auch nicht; gehe hin und sündige hinfort nicht mehr.” Leiden wir an der Vorstellung von einem physischen Übel, so haben wir die sichere Verheißung, daß es ebenso leicht ist zu sagen: „Stehe auf und wandle” wie: „Dir sind deine Sünden vergeben,” und viel leichter, es zu demonstrieren. Selbst wenn wir uns dem „finstern Tal” zu nahen scheinen, werden wir „kein Unglück” fürchten, denn mit dem Psalmisten können wir im Vertrauen auf Gott sagen: „Du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich”; und: „Er hat seinen Engeln befohlen über dir, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen.”
