Menschen, die Furcht empfinden, machen Halt und zögern, und im Zögern liegt große Gefahr. An dem Ort, wo sie sein sollten, haben sie nichts zu fürchten; wenn sie aber da stehen bleiben, wo sie nicht hingehören, machen sie sich den Schutz nicht zu eigen, der ihrer harrt. Als die Israeliten das Land der Knechtschaft verließen, lagerten sie sich am Ufer des Roten Meeres. Auf der andern Seite zog sich eine unpassierbare Gebirgskette hin. Sie hielten sich daher für völlig hilflos, als die Nachricht kam, daß Pharao mit seinen Wagen und Reitern von der Wüste her ihnen nacheilte, um sie in dieser Sackgasse zu fangen. Ratlos und untätig stand das Volk da, ein leichtes Ziel für die Bogen und Speere der Krieger. Ihre Politiker fingen an zu klagen und zu schimpfen und taten dar, wie schlecht alles gehandhabt worden sei. Moses hingegen suchte das Volk zu beruhigen und versicherte ihnen, die bösen Prophezeiungen würden nicht in Erfüllung gehen. Das Volk hatte nämlich gesagt, es wäre für sie viel besser gewesen, den Ägyptern fortgesetzt zu dienen, als so in der Wüste zu sterben.
Alsdann erging das Wort des Herrn an Moses: „Was schreiest du zu mir? Sage den Kindern Israel, daß sie ziehen.” Das Heer der Ägypter war hinter ihnen, die Bergmauer neben ihnen, das Meer vor ihnen; und dennoch führte der einzige Ausweg aus der Gefahr, der einzige Weg ins gelobte Land direkt in die Wogen hinein. Dieses Land der Verheißung mit seinem üppigen Weideland und seiner honigreichen Flora, dieses Land, von welchem gesagt war, es fließe darinnen Milch und Honig, wurde für sie nur dadurch erreichbar, daß sie vorwärts gingen.
So ist überhaupt im Leben alles, was die Mühe lohnt, nur für diejenigen vorhanden, die wachen und arbeiten. Das zurückgebliebene Kind ist einfach eines, das nicht vorwärts gekommen ist. Wer sich beklagt und sich um Mitleid bewirbt, ist nur deshalb zu bemitleiden, weil er nicht vorangegangen ist und die seiner wartenden Segnungen in Empfang genommen hat. Der Kranke redet von Symptomen und Gefühlen und verhält sich dabei völlig widerstandslos, anstatt den Mut zu haben, der Wahrheit zu gehorchen, welche da sagt: „Stehe auf und wandle.” Der verlorene Sohn will noch eine Zeitlang die Schweine hüten; er hat nicht genug Tatkraft, sich von der mit Trebern bestreuten Erde zu erheben und die Reise nach seines Vaters Haus anzutreten. Der Politiker verwirrt sich mit schwülstigen Reden und heftigen Worten, so daß man wohl Tätigkeit bemerkt, aber keinen Fortschritt, wohl Hammerschläge hört, aber keinen Bau sieht. Und dabei lassen Leben und Freiheit, Hoffnung und Inspiration, Menschentum und Göttlichkeit den Ruf zum Fortschritt fortwährend an einen jeden von uns ergehen.
Welchem Zweck soll nun dieser Fortschritt dienen? Gewiß keinem andern als die Erkenntnis Gottes zu erlangen. Mrs. Eddy bringt dies in folgenden Worten kurz und bündig zum Ausdruck: „Wir alle müssen lernen, daß Leben Gott ist” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 496). Wenn wir dieses Ziel nicht im Auge behalten, hegen wir leicht falsche Anschauungen vom Leben. Wir mögen sogar, gleich dem Feigling, wegen unsrer Furcht und unsrer falschen Annahmen fortwährend den Tod erdulden; aber wirklich sterben können wir nicht, da ja Gott das Leben und der Mensch der Ausdruck des unendlichen Gemüts ist, und dieses Gemüt ist das Leben.
Sind wir als Christliche Wissenschafter wirklich überzeugt, daß uns ein Land Kanaan bevorsteht, welches eines Auszugs aus Ägypten, eines Durchzugs durch das Rote Meer, einer Reise durch die Wüste wert ist, ja daß wir das ewige Leben kennen lernen sollen? Ist dies der Fall, dann werden wir nicht unentschlossen und untätig sein wie ein Blinder, der da wartet, bis ihn jemand bei der Hand nimmt. Wir bleiben nicht stehen, um andern die Schuld zu geben, weil wir in der Erkenntnis des höchsten Guten, des vollkommenen Gemüts keine Fortschritte gemacht haben. Wir befriedigen den fleischlichen Sinn nicht länger, wie der Faulenzer das Verlangen nach Schlaf befriedigt, bis man ihn an den zerfallenen und mit Nesseln überwachsenen Mauern seines Weinbergs erkennt. Vielmehr nehmen wir die Wahrheit mutig und entschlossen an, die Wahrheit, welche, wie Mrs. Eddy sagt, „dieses fleischliche Gemüt erneuert und den Gedanken mit dem Brot des Lebens speist” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 222).
Wir dürfen nicht vergessen, daß das Denken die Welt regiert und daß falsches Denken berichtigt werden muß. Wer mit dieser Berichtigung bei sich selber beginnt, gelangt zu der Erkenntnis, daß Gebet Macht bedeutet, wobei ehrliches Verlangen die Höhe des Himmels ersteigt. Unser Lehrbuch erschließt uns mit folgenden Worten die Bedeutung der Zustände, die gegenwärtig zu herrschen scheinen, sowie unsre Pflicht ihnen gegenüber: „Während dieses letzten Kampfes werden sich arge Gemüter bemühen, Mittel und Wege zu finden, um mehr Böses auszuführen; aber diejenigen, welche die Christliche Wissenschaft erkennen, werden das Verbrechen im Zaum halten.” Was ist das größte Übel unsrer Zeit andres als die mentale Suggestion, welche die Menschen veranlaßt, das Böse gut zu nennen, und wegen ihrer falschen Auffassung vom Guten das Gute böse zu nennen? Wohl sagte Jesus zu seinen Jüngern, als er sie aussandte, um dem Irrtum seiner Zeit entgegenzutreten und ihn zu bekämpfen: „Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben;” aber dies bedeutet nicht, daß man seiner Meinung im Flüsterton Ausdruck geben soll, damit sie keinen Anstoß gebe, oder daß man, um ja keinen Schaden zu tun, ganz und gar in Untätigkeit verfallen darf.
Echte Christliche Wissenschafter müssen fortfahren, Denker zu sein. Sie gehen von dem einen Gemüt aus und bringen die Harmonie zum Ausdruck, die der unendlichen Intelligenz entspringt. Wenn auch die „Herrn der Welt, die in der Finsternis dieser Welt herrschen,” Einwand erheben gegen die Wahrheit, welche sie ihrer Herrschaft über die Menschheit beraubt, so muß der Christliche Wissenschafter dennoch fortfahren, das Wort Gottes zu reden, und dieses Wort lautet: „Es werde Licht.”
