Seitens derer, die außerhalb der Christlichen Wissenschaft stehen, oder derer, die sich einigermaßen für diese Lehre interessieren, hört man zuweilen die Frage, warum sich denn ein Kranker um Hilfe an einen Mitmenschen wenden solle. Der Einwand lautet etwa so: „Erhört Gott nicht eines Menschen Gebet ebenso wie das eines andern?” Gottes Unparteilichkeit ist gewiß keinem Zweifel unterworfen, nur fragt es sich, in welchem Grade der Hilfsbedürftige vorbereitet ist, die Segnungen zu empfangen, die Gott stets für einen jeden bereithält. Es liegt ein großer Trost in der Erkenntnis, daß durch die geistige Erleuchtung, die der Menschheit durch das Studium von Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift zuteil geworden ist, Tausende und aber Tausende ohne die Hilfe einer andern Person geheilt worden sind. Dies beweist die Richtigkeit der Worte des Meisters, die so oft von Christlichen Wissenschaftern angeführt werden: „Und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch freimachen.”
Tatsächlich kommt in der Christlichen Wissenschaft das Heilen der Kranken ausschließlich durch das Erkennen der Wahrheit über Gott und den Menschen zustande; nur scheinen viele nicht fähig zu sein, diese Wohltat ohne die Erkenntnis eines andern zu erlangen. Bei den übrigen Zweigen der Forschens stellen wir dies nie in Frage. Es wäre wohl jedem Schulknaben möglich, sich allein durch die verschiedenen Unterrichtsfächer hindurchzuarbeiten, die man auf der menschlichen Stufe für unerläßlich hält. Dennoch aber finden es die Lehrer ratsam, ihren Schülern zu helfen, bis sie ihre Arbeit allein tun können — bis ihnen das Lösen der Aufgaben, die ihnen anfangs so schwierig vorkamen, tatsächlich Freude macht.
Aus der Geschichte von der Fußwaschung, wie Johannes sie aufgezeichnet hat, können wir hinsichtlich der Krankenheilung eine nützliche Lehre ziehen. Wir lesen, daß sich Jesus nach dem Abendessen zum Dienste „umgürtete” und anhub, „den Jüngern die Füße zu waschen.” Petrus erhob Einwand, als die Reihe an ihn kam, worauf der Meister ihm mit den bedeutungsvollen Worten antwortete: „Was Ich tue, das weißt du jetzt nicht; du wirft’s aber hernach erfahren.” Als Petrus sich noch weiter widersetzte, sagte Jesus: „Werde ich [Christus, die Wahrheit] dich nicht waschen, so hast du keinen Teil mit mir.” Und er fügte hinzu: „So nun Ich, euer Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt ihr auch euch untereinander die Füße waschen. Ein Beispiel habe ich euch gegeben, daß ihr tut, was Ich euch getan habe.”
Man achte auf die bedeutungsvolle Frage, die Jesus bei dieser Gelegenheit an seine Jünger richtete: „Wisset ihr, was ich euch getan habe?” Diese Frage sollten alle erklärten Christen an sich selber richten. Nach christlich-wissenschaftlicher Auslegung bedeutet sie, daß der Meister seinen Jüngern die Macht der Wahrheit und Liebe kundgetan hatte, die Macht, welche den leidenden menschlichen Sinn heilt und das Verständnis von materiellen Annahmen reinigt, so daß Glaube und Hoffnung auf reiner Geistigkeit beruhen können. Bekanntlich gibt es mehrere Konfessionen, welche neben der Taufe und dem Abendmahl die Fußwaschung als symbolischen Ritus beibehalten haben. Dient aber dieser Brauch dem Zweck, dem menschlichen Bewußtsein aufs neue die Erkenntnis der Wahrheit zu bringen, die von Sünde, Krankheit und Tod befreit? Die Frage: „Wisset ihr, was ich euch getan habe?” ist für den Christlichen Wissenschafter ein Hinweis auf des Meisters Heilungswerk. Sie erinnert ihn fortwährend an das, was er für die Jünger seiner Tage tat und was wir in liebevollem Gehorsam gegen seinen bestimmten Befehl einander tun sollen. Wer wie Petrus die nötige Hilfe abzuweisen geneigt ist, der denke über die Worte unsrer Führerin nach: „Wenn Schüler sich nicht selbst schnell heilen, dann sollten sie beizeiten einen erfahrenen Christlichen Wissenschafter zu Hilfe rufen. Wenn sie nicht willens sind, dies für sich zu tun, brauchen sie nur zu wissen, daß der Irrtum einen solchen unnatürlichen Widerstand nicht hervorbringen kann” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 420).
Bei alledem vergesse man nicht, daß wahre christlich-wissenschaftliche Behandlung keine Abhängigkeit von der Persönlichkeit eines andern erzeugt, sondern daß sie das Denken erhebt und das Verständnis reinigt, so daß derjenige, der Hilfe erhält, wie nie zuvor selber zu arbeiten vermag. Und er beweist dann durch seine Wiederherstellung der Welt das unaufhörliche Wirken des göttlichen Gesetzes, das da heilt und errettet.
