Wollte man hundert Menschen fragen, was sie unter dem Wort Gesundheit verstehen, so würden wohl neunundneunzig antworten, es sei ein von Krankheit freier Zustand des Körpers. Der hundertste denkt vielleicht erst nach, denn es schwebt ihm, wenn auch unklar, der Gedanke vor, daß Gesundheit sowohl ein geistiger wie ein körperlicher Zustand ist. Sei dem wie ihm wolle, es besteht kein Zweifel, daß die Erhaltung der Gesundheit, d. h. das Fernhalten der Krankheit vom Körper, einen Teil der täglichen Sorgen des Menschen bilden, und gegenwärtig ist dies in steigendem Maße Gegenstand der väterlichen Fürsorge der Regierungen.
Die in den verschiedenen Ländern bei der Rekrutenaushebung gemachte Beobachtung, daß der Gesundheitszustand im Durchschnitt sehr schlecht ist, hat die Regierungen zu der Erkenntnis gebracht, daß Hilfe geschaffen werden muß; aber in ihren Bestrebungen scheinen sie sich nicht über die Wohnungs- und Lohnfrage erheben zu können. Wohl sind diese Dinge notwendig, aber der Christliche Wissenschafter erkennt sie als Wirkungen und nicht als Ursachen. Daß dieser Gegenstand von einem durchaus falschen Gesichtspunkt aus betrachtet wird, geht aus einer Bemerkung in einem Leitartikel einer weit verbreiteten Tageszeitung hervor. Der Verfasser erwähnte verschiedene Maßnahmen, die die Gesundheit des Volkes im allgemeinen fördern sollten, und sagte unter anderem: „Krankheit ist ein Korrelat der Gesundheit,“ wodurch er gleichsam das ganze Menschengeschlecht auf der Stufe der Materie festbindet, wo es für sie kein Entrinnen gibt. Für den Christlichen Wissenschafter, der in der Bibel und in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ bewandert ist, erscheint ein solcher Ausspruch fast gotteslästerlich, denn er hat gelernt, Gesundheit mit der Erkenntnis Gottes durch Christum Jesum in Verbindung zu bringen und Krankheit als ein Korrelat des Irrtums oder einer Verneigung zu betrachten, als etwas, was weder Prinzip noch Wesen hat und was sicherlich nicht mit Gott in Beziehung steht, den er als den Quell der Gesundheit erkennt.
Auf Seite 120 von Wissenschaft und Gesundheit sagt Mrs. Eddy: „Gesundheit ist nicht ein Zustand der Materie, sondern des Gemüts; auch können die materiellen Sinne kein zuverlässiges Zeugnis in bezug auf die Gesundheit abgeben. Die Wissenschaft des Gemüts-Heilens zeigt, daß es nur dem Gemüt und nichts anderem möglich ist, den wirklichen Zustand des Menschen der Wahrheit gemäß zu bezeugen oder an den Tag zu legen. Daher kehrt das göttliche Prinzip der Wissenschaft das Zeugnis der physischen Sinne um und enthüllt, daß der Mensch in der Wahrheit, welche die einzige Basis der Gesundheit ist, harmonisch besteht; und so leugnet die Wissenschaft alle Krankheit, heilt die Kranken, stößt den falschen Augenschein um und widerlegt die materialistische Logik.“ An anderen Stellen, die zu zahlreich sind, um zitiert oder auch nur angedeutet zu werden, betont Mrs. Eddy, daß Gesundheit und Krankheit entgegengesetzte Zustände des Gemütes sind, die keine Beziehung zueinander haben, ja daß die bloße Abwesenheit der Krankheit nicht notwendigerweise einen Zustand der Gesundheit bedeutet. Der Mensch allein ist gesund, der die Furcht, die Leidenschaften und Schäden, die dem fleischlichen Gemüt innewohnen, durch geistiges Streben und geistige Tätigkeit überwunden hat und dessen reine Gedanken in einem gesunden Körper zum Ausdruck kommen; denn Gesundheit bedeutete ursprünglich Ganzheit oder Heiligkeit.
Daß dies zum Teil erkannt worden ist, beweisen Ausdrücke, die da und dort in alten Büchern zu finden sind. So übersetzt z.B. Wycliffe das Wort Erlösung fast durchweg mit helthe [die alt-englische Form von health, Gesundheit], und das Gebetbuch Edward VI. erklärt in dem Sündenbekenntnis, wir seien alle elende Sünder und es sei keine Gesundheit (health) in uns. Offenbar wird hier Gesundheit mit einem mentalen Zustand in Verbindung gebracht. Die allmählichen Übergriffe der Materialität jedoch trennten Gemüt und Körper in solchem Maße, daß Gesundheit immer mehr als ein Zustand der Materie angesehen wurde. Man glaubte, Heilung von Krankheit sei nur durch den Gebrauch von Medikamenten zu erlangen, und dem Gemüts-Zustand wies man ein bescheidenes Plätzchen im Hintergrund an. Wie es jetzt scheint, sollen die Völker vom Parlament oder vom Kongreß durch Gesetzgebung gesund erhalten werden. Wenn ein solches Gesetz das Denken einer Nation beherrschen und Laster, Haß, Furcht usw. aus den Gedanken des Volkes ausscheiden könnten, dann wäre von diesem Verfahren Erfolg zu erhoffen. Da dies aber unmöglich ist, so kann man ziemlich sicher annehmen, daß die Furcht, die durch fortwährende Erörterungen von Krankheiten erzeugt wird, gerade die Übel vermehrt, die diese Gesetze verhüten sollen.
Um wiederum aus Wissenschaft und Gesundheit zu zitieren (S. 411): „Die bewirkende Ursache und Grundlage aller Krankheit ist Furcht, Unwissenheit oder Sünde. Krankheit wird immer durch einen falschen Begriff herbeigeführt, der mental beherbergt statt zerstört wird. Krankheit ist ein verkörpertes Gedankenbild. Der mentale Zustand wird ein materieller Zustand genannt. Alles, was im sterblichen Gemüt als physischer Zustand gehegt wird, bildet sich am Körper ab.“ Wie diese Worte deutlich ersehen lassen, kann man nur dadurch Gesundheit erlangen und erhalten, daß man die völlige Liebe hat, welche Furcht austreibt, die Gotteserkenntnis, welche Unwissenheit berichtigt — daß man das Gute als das einzige Prinzip anerkennt, worauf das Verlangen nach sündlichen Dingen verschwindet. Die Christliche Wissenschaft hat die Aufgabe, der ganzen Welt dieses Mittel gegen alle Leiden zu bringen; und daß sie ihre Aufgabe erfüllt, wird einem jeden offenbar, der sich die Mühe nimmt, die Tatsachen zu prüfen.
Die auffälligste dieser Tatsachen ist die beständige Zunahme in der Zahl derer, die sich die Christliche Wissenschaft zum Lebensführer gewählt haben. Diese Lehre enthält nichts Aufregendes oder Sensationelles, dem man ihre Anziehungskraft zuschreiben könnte. Die öffentlichen Gottesdienste in den Kirchen sind äußerst einfach, frei von allem Formenwesen oder von der Anziehungskraft dessen, was man im allgemeinen gutes Predigen nennt. Die Christliche Wissenschaft bewirkt in ihren Anhängern einen gewissen Ernst, der dem menschlichen Gemüt nicht zusagt, auch verlangt sie eine Genauigkeit im Denken und Reden, die der allgemeinen Denkart sehr streng vorkommt. Sie muß somit etwas Gediegenes enthalten, etwas, was diejenigen anzieht, die unter ihren Einfluß kommen, und dieses Etwas ist ohne Zweifel die beweisbare Erkenntnis Gottes, die sie mitteilt und die dem ehrlichen Schüler den Frieden verleiht, „welcher höher ist denn alle Vernunft.“ Um zum Schluß Whittiers bekannte Worte zu zitieren:
Der ungenähte Rock des Herrn
Ist da, wo Schmerz uns quält,
In dem Gedräng’ rührt man ihn an
Und Heilung dann erhält.
