Ein eingehendes Studium des Lebens und der Lehren Christi Jesu, wie die vier Evangelien sie darlegen, enthüllt keine einzige Gelegenheit, wo das Benehmen unseres Meisters nicht mit dem erhabenen Charakter übereinstimmt, den seine Jünger und Nachfolger diesem ersten und größten aller Christen beimessen. Er brachte freundliches und höfliches Wesen, Reinheit, Demut, Gehorsam, Redlichkeit und zarte Rücksicht gegen seinen Nächsten — kurz alle christlichen Tugenden — in beispielloser Weise zum Ausdruck. Und doch vermochte er auch gerechten Zorn zu empfinden, der hell auflodern konnte, wenn er der Unehrlichkeit und Heuchelei begegnete. Der Verkünder der Seligpreisungen und jener unsterblichen Worte, mit denen er die Mühseligen und Beladenen zu sich einlud, um ihnen Ruhe und Frieden zu geben, konnte auch strenge und scharfe Worte an die Pharisäer richten,— Worte so unnachgiebig, daß der Ernst seiner Anklage gegen die unehrlichen Ansprüche seiner Verfolger unverkennbar war.
Die Lehren der Christlichen Wissenschaft, d. h. des Christentums, tragen dazu bei, Freundlichkeit und viele andere schöne Eigenschaften in allen menschlichen Beziehungen zu fördern. Die Erkenntnis, daß der Mensch als das Ebenbild Gottes keine Eigenschaften besitzen kann, die ihm nicht aus seiner vollkommenen Quelle, der göttlichen Liebe, zufließen, trägt viel dazu bei, den menschlichen Charakter weich und gütig und auf das Wohlergehen anderer bedacht zu machen. In verschiedenen Dörfern Palästinas und Anatoliens soll heute noch die Sitte herrschen, daß man Reisenden, die meist erschöpft von langen Wegen am Ziele ankommen, zum Zeichen freundlicher Bewillkommnung die Füße wäscht, im Andenken an das Beispiel der Demut und der freundlichen Hilfsbereitschaft des Meisters, der bei dem letzten gemeinsamen Abendmahl seinen Jüngern die Füße wusch. Viele Menschen in Ländern, die eine vorgeschrittenere Zivilisation und einen höheren Bildungsgrad beanspruchen, könnten aus diesem hervorragenden Beispiel liebevoller Hilfsbereitschaft eine Lehre ziehen.
Christliche Wissenschafter haben außerdem stets die Lehren und das Vorbild unserer verehrten Führerin vor Augen, die zu allen Zeiten die den wahren Christen kennzeichnende gütige Freundlichkeit zum Ausdruck brachte. Sowie sie in ihren häuslichen und freundschaftlichen Beziehungen von ihren Schülern stets das höchste Maß der Demonstration forderte, war sie selbst immer ein Beispiel für die schönen Worte in ihrem Lehrbuch, „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 17): „Und Liebe spiegelt sich in Liebe wieder.“ Diese Liebe brachte sie in gütigster Freundlichkeit gegen alle zum Ausdruck, mit denen sie in Berührung kam. Ist es nicht die Pflicht eines jeden, der darauf Anspruch macht, ein Schüler der Christlichen Wissenschaft und ein wahrer Christ zu sein, unsere Führerin in diesem Punkte nachzuahmen? Diese heilige Pflicht erstreckt sich auf alle unsere Beziehungen, ganz gleich ob sie öffentlicher, privater, geschäftlicher oder beruflicher Art sind, besonders aber auf unsere Kirchenbeziehungen.
Es scheint so selbstverständlich, daß wir die Forderungen der Höflichkeit ganz besonders in unseren kirchlichen Beziehungen zu erfüllen suchen sollten. Aber es gibt viele Christliche Wissenschafter, „Kinder des Lichtes,“ Christen, die sich bemühen, die geistigen Forderungen in jeder Hinsicht zu erfüllen, und die doch ihre Verantwortlichkeit als Kirchenmitglieder so leicht nehmen, daß sie es in der Kirche sogar an der Höflichkeit fehlen lassen, die im Hause und in der Gesellschaft für selbstverständlich gehalten wird. Sollten Christliche Wissenschafter nicht ebenso entgegenkommend, höflich und rücksichtsvoll gegeneinander und gegen alle Kirchenbesucher sein, wie sie es gegen die Mitglieder ihrer eigenen Familie und gegen ihre Gäste sind? Wenn wir es den Ordnern erleichtern, die Besucher der Gottesdienste und Vorträge so zweckentsprechend und bequem wie möglich unterzubringen, wenn jeder von uns dazu beiträgt, denen ein schnelles Verlassen des Raumes zu ermöglichen, die dies sofort nach Schluß des Gottesdienstes zu tun wünschen, und wenn wir jenen Grad der Ruhe aufrecht erhalten, der dazu führt, Geist und Gemüt in den Zustand rechter Empfänglichkeit zu versetzen,— so sind alle diese kleinen Dienste für jedes einzelne Kirchenmitglied gute Gelegenheiten, um die wahre Anmut der Höflichkeit, die Liebe und zarte Rücksichtnahme für andere zum Ausdruck zu bringen, die die Vergeistigung der Gedanken erkennen läßt. Sicherlich werden die Christlichen Wissenschafter, die es freiwillig unternommen haben, jede Erscheinungsform des Bösen zu zerstören — und zwar die kleinliche Annahme der Selbstsucht nicht weniger als die gröberen Arten des Irrtums — sich über ein bloßes Sich-gehen-lassen erheben, damit der Fremdling in unseren Toren Gelegenheit finde, durch die Gottesdienste und Vorträge das reichste Maß des Segens zu empfangen.
Es sollte uns allen klar sein, daß es noch nicht genug ist, wenn wir die Gottesdienste und Vorträge finanziell unterstützen und ihnen regelmäßig beiwohnen, sondern daß es auch zu unseren Pflichten gehört, uns jederzeit eines solchen Maßes liebevoller Höflichkeit zu befleißigen, daß den neuen Suchern nach „Ruhe und ... Erquickung“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 570) die größte Möglichkeit geboten wird, in reichem Maße zu finden, was sie suchen. Die Christlichen Wissenschafter dürfen nicht vergessen, daß sie der Öffentlichkeit gegenüber als Vorbilder der Christlichen Wissenschaft und als Vertreter der Lehren unserer Führerin dastehen. Jeder von uns hat also die Pflicht, sie richtig zu vertreten und keine Veranlassung zu falschen Auffassungen darüber zu geben. Diese Pflicht wird uns zu einem segenbringenden Vorrecht, wenn wir uns bewußt werden, daß das höchste Glück im Dienen liegt. Wenn wir für andere ein Segen sind, werden wir dann nicht auch selbst reich gesegnet? Wahre Höflichkeit kommt vom Herzen, sie beruht auf liebevollem Denken, das alle, auf denen es ruht, segnen und bereichern möchte. Sie ist kein äußeres Gewand, das man nach Belieben anlegen kann, sie ist Anmut des Herzens, die man lieben und üben muß. Hört die Ermahnung des Petrus: „Endlich aber seid allesamt gleichgesinnt, mitleidig, brüderlich, barmherzig, freundlich. Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern dagegen segnet, und wisset, daß ihr dazu berufen seid, daß ihr den Segen erbet.“
