Durch alle Zeitalter hindurch, über die wir Aufzeichnungen haben, hat die Menschheit beharrlich an der Hoffnung auf ein über die sterbliche Erfahrung hinausreichendes Leben festgehalten. Unzählige Millionen haben sich zu dem Glauben an ein Leben jenseits des Grabes bekannt, aber ihre Ansichten darüber, wie dieses Leben sein würde, waren so gegensätzlich wie Nord- und Südpol und unterschieden sich ebensosehr von einander wie die Mittel, die sie anwandten, um das Glück zu erlangen. Viele andere haben über diese Frage ernstlich nachgedacht, ohne zu einem zufriedenstellenden Ergebnis zu gelangen, während nicht wenige sie als unlösbares Rätsel voller Verzweiflung beiseite geschoben haben.
Das Rätsel des menschlichen Lebens ist jedoch nicht unlösbar, wenn wir nur einen richtigen Standpunkt gewinnen, von dem wir ausgehen können. Mary Baker Eddy hat uns eine bestimmte und vollständige Antwort auf die Frage der Zeiten gegeben: „Wird ein toter Mensch wieder leben?“ Jahrelanges ernstes Forschen in der Heiligen Schrift hatte ihr die feste Überzeugung gebracht, daß der Mann von Galiläa das ewige Leben nicht nur als einen der Haupt-Ecksteine der christlichen Religion verkündete, sondern daß er selbst, wie andere vor ihm, tatsächlich den Beweis der Fortdauer des Lebens erbrachte,— des Lebens, das keinen materiellen Aufbau hat und keine materiellen Elemente, deren augenscheinlicher Verfall der Annahme des Todes Glauben verschaffte.
Gleich zu Anfang des biblischen Berichts über die erste Menschheit lesen wir von einem Mann, der in seinem Denken so geistig geworden war, daß ihm die Materie nicht mehr wirklich erschien, weshalb er sich aus seiner materiellen Umgebung heraus oder über sie hinweg heben konnte. Wie wir in dieser schönen Erzählung im fünften Kapitel des ersten Buches Mose lesen, führte Henoch „ein göttliches Leben“ oder, wie es die englische Bibel ausdrückt, „er wandelte mit Gott.“ Wie muß sein geistiges Verständnis gewachsen sein durch das beständige andachtsvolle Schauen der Güte Gottes für die Menschheit! Schließlich, als er nach vielen Jahren der Treue, Reinheit und Liebe und des Wohltuns so umgewandelt war, daß seine menschliche Gegenwart zu einem unendlichen Segen geworden, gab Henoch seinen Glauben an die Sterblichkeit endgültig auf und entschwand dem menschlichen Wahrnehmungsvermögen. „Und dieweil er ein göttliches Leben führte, nahm ihn Gott hinweg, und er ward nicht mehr gesehen.“ Sein Bewußtsein war so von Güte, Liebe, Wahrheit und Leben durchdrungen, daß sterbliche Annahmen keinen Platz mehr darin finden konnten. Er hatte sich über sie erhoben.
Nichts in der Heiligen Schrift außer dem Wort „starb“ im fünften Vers des letzten Kapitels des fünften Buches Mose berechtigt uns zu der Annahme, daß Moses den gewöhnlichen materiellen Tod erlitt. Es gibt im Hebräischen mehrere Worte, die je nach dem Zusammenhang verschiedene Bedeutung haben. Dem hier in Frage kommenden kann die Bedeutung von „sterben,“ in manchen Fällen aber auch die Bedeutung von „hinweggenommen werden“ beigelegt werden. Wäre es darum nicht möglich, daß der gewählte Ausdruck in diesem Fall, wie in manchem anderen, vielmehr die Auffassung des Schreibers wiedergibt, der den Urtext abschrieb, als die ursprüngliche Bedeutung? Moses hatte als Führer Israels seine wunderbare Wanderung durch die Wüste zu Ende geführt. Gott hatte ihm unzählige Male Seine Macht kundgetan, und Moses hatte die göttlichen Befehle treu befolgt. Als die Erlösung endlich kam und die Kinder Israel die Grenze des verheißenen Landes erreichten, verweilte Moses lange Zeit, um Gott für den wunderbaren Schutz, den Er Seinem auserwählten Volk hatte angedeihen lassen, Lob und Dank zu singen. Man höre die Schlußworte seines schönen Dankliedes: „Zuflucht ist bei dem alten Gott und unter den ewigen Armen.... Wohl dir, Israel! Wer ist dir gleich? O Volk, das du durch den Herrn selig wirst, der deiner Hilfe Schild und das Schwert deines Sieges ist! Deinen Feinden wird's fehlen; aber du wirst auf ihren Höhen einhertreten.“
Den Berichten gemäß stieg Moses nach diesem Freudengesang und nach dieser geistigen Erhebung hinauf auf den Berg Nebo. Er stieg aus der Ebene Moab empor in die reinere Luft der Berge und kehrte nicht mehr zurück. Lange, ausdauernd und gewissenhaft wurde nach dem hebräischen Gesetzgeber gesucht, aber ohne Erfolg. Daß er in voller Lebenskraft war, deuten die Worte an: „Seine Augen waren nicht dunkel geworden, und seine Kraft war nicht verfallen.“ Lassen diese Worte darauf schließen, daß ihm der Tod bevorstand?
Diesem kurzen Bericht in der Heiligen Schrift fügt der Geschichtsschreiber Josephus die Auffassung der alten Hebräer hinzu, die er offenbar nach fleißigem Forschen aus den damals vorhandenen Berichten herauslas, ohne jedoch einen tatsächlichen Beweis dafür erbringen zu können. Indem er die Begebenheit auf dem Berge Pisga erweitert, beschreibt er, wie Moses, Josua, Eleasar und die Ältesten der Stämme den Berg erstiegen, um das langersehnte Land, das nun vor ihnen lag, zu überblicken. Die Luft Palästinas ist so klar, daß man in dieser Höhe von ungefähr viertausend fünfhundert Fuß meilenweit süd- und nordwärts über ein schönes fruchtbares Tal blicken kann. Josephus erzählt, daß Moses, Josua und Eleasar höher stiegen als die Ältesten, vielleicht um einen besseren Überblick zu gewinnen. Man kann sich leicht vorstellen, daß das Herz des großen Gesetzgebers bei diesem Anblick von Dankbarkeit überfloß. Während Moses Eleasar umarmen wollte, erzählt der Geschichtsschreiber weiter, und während Josua noch mit den beiden sprach, sammelte sich plötzlich eine Wolke über Moses, und er entschwand in ein unbekanntes Tal. Obwohl es sich hier nur um eine geschichtliche Aufzeichnung handelt, findet sich nichts in der Heiligen Schrift, was ihr widerspricht, wogegen sie durch vieles bestätigt wird.
Als die Nachfolger Moses ihren entschwundenen Führer nicht finden konnten, sagten sie, Gott habe ihn begraben. Hätten sie die göttliche Macht und Gegenwart verstanden, wie sie ihr berühmter Führer verstand, hätten sie die geistigen Höhen zu erreichen vermocht, die er erreichte, als er das Volk von der Wolkensäule bei Tag und von der Feuersäule bei Nacht führen ließ, hätten sie die Unwirklichkeit der Materie begriffen wie er, als er den Felsen in der Wüste schlug, sodaß Wasserströme daraus flossen, hätten sie auch nur zum Teil erkannt, daß es die schirmende Gegenwart des unendlichen Geistes war, die sein Antlitz leuchten ließ, als er vom Berge Sinai herabstieg, dann hätten sie auch verstehen können, daß bei dieser letzten Begebenheit die Herrlichkeit Gottes den treuen Führer der Heerscharen Israels so umfing, daß sein materieller Körper nichts Wirkliches mehr für ihn hatte.
Die von den Patriarchen gelieferten Beweise von der Ewigkeit des Lebens werden weit übertroffen durch die glorreiche Himmelfahrt des Meisters in Gegenwart von etwa fünfhundert Personen. Das, was Henoch allein mit Gott, was Moses auf dem Berge Nebo und was Elias in der Gegenwart Elisas tat, das vollbrachte Jesus vor den Augen einer Menschenmenge, die jede seiner Bewegungen genau beobachten konnte. Er, der das Wasser in Wein verwandelt, die Menge gespeist, die Kranken, die Tauben und die Krüppel geheilt hatte, der den Blinden die Augen geöffnet, der die Toten erweckt hatte, und der schließlich siegreich aus dem Grabe erstanden, das ihm als endgültiger Aufenthalt zugedacht war, er, derselbe Mann aus Galiläa, überwand nun vor ihren Augen alle sogenannten Gesetze der Materie, die letzte Annahme vom materiellen Dasein, so daß er ihren Blicken in demselben Augenblick entschwand, da sie auf ihm ruhten. War das nicht ein unzweifelhafter Beweis dafür, daß das sterbliche Dasein auf bloßer Annahme beruht,— einer Annahme, die vor dem geistigen Verständnis weicht wie die Schatten der Dunkelheit vor dem hereinbrechenden Licht?
Es ist interessant festzustellen, daß Moses, wie Josephus erzählt, in einer Wolke verschwand. Den biblischen Aufzeichnungen gemäß sah auch Elisa den Elias in einer Wolke verschwinden, und es war eine Wolke, die Jesus vor der Menge verbarg, als sie staunend auf die Stelle blickte, da er gestanden hatte. Was bedeutet diese Wolke? Nichts anderes als den materiellen Sinn derjenigen, deren Bewußtsein nicht vergeistigt war, und die da staunten, weil sie den Vorgang nicht zu erfassen vermochten. Wer noch an die Materie glaubt, der kann Geist nicht verstehen. War diese Wolke nicht derselbe Nebel, der, wie wir im ersten Buch Mose lesen, über der Erde aufging und „feuchtete alles Land“?
Diese wunderbaren Ereignisse, von denen die Heilige Schrift berichtet, waren in geheimnisvolles Dunkel gehüllt, bis Mrs. Eddy den Vorhang zerriß und das Licht des geistigen Verständnisses hereinließ. In „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 492) sagt sie: „Um richtig folgern zu können, sollten wir nur eine Tatsache vor Augen haben, nämlich das geistige Dasein. In Wirklichkeit gibt es kein andres Dasein, denn Leben kann nicht mit seinem Ungleichnis, der Sterblichkeit, vereinigt werden.“ Die Christlichen Wissenschafter gehen also von einer Grundlage aus, die von denen nicht verstanden werden kann, die an die Wirklichkeit der Materie glauben. Sobald man jedoch die Lehren unserer Führerin erfaßt, wird man sofort aus dem Irrgarten menschlicher Mutmaßungen, Widersprüche und Geheimnisse herausgeführt in ein Reich, in dem diese keine Stätte haben. Der Ausgangspunkt ist das geistige Sein. Da Gott unendlicher Geist ist, muß Geist allgegenwärtig sein und die Materie unwirklich, und da Gott allgegenwärtiges Leben ist, gibt es keinen Tod. Leben ist also überall gegenwärtig und bringt sich unausgesetzt zum Ausdruck in der göttlichen Vollkommenheit, Schönheit, Harmonie, Glückseligkeit, Fülle und Ewigkeit der geistigen Schöpfung.
Sobald dies Verständnis, wenn auch nur in gewissem Grade, in das menschliche Gemüt eindringt, gestaltet es unsere Auffassung vom Leben um. Es wird uns klar, daß die sterbliche Erfahrung nur ein Traum ist, der mit den Tatsachen des Lebens keinen Zusammenhang hat. Wir lernen einsehen, daß das, was endlich und unvollkommen ist, unmöglich der Auswuchs des Unendlichen und Vollkommenen sein, noch damit in Verbindung stehen kann. Die Tiefen des geistigen Lebens können allerdings nur durch allmählichen Fortschritt erfaßt werden, aber wir können verstehen, daß das geistige Leben heute schon die große und einzige Tatsache des Daseins ist, und daß die Menschheit es je mehr erfassen und verstehen lernt, je mehr sie von materiellen Annahmen frei wird.
Es sollte aller Menschen höchstes Ziel sein, nach dem Verständnis des geistigen ewigen Lebens zu streben. Dies Verständnis allein erhebt uns über die mutmaßlichen Gesetze der Materie, befreit uns von den Fesseln menschengemachter Glaubenssätze und Lehrmeinungen und zerstört die Furcht vor dem Tode. Es gab Jesus Macht über Sünde, Krankheit, Ungemach und das Grab. Seine Jünger, die Apostel und die Christen der ersten drei Jahrhunderte des christlichen Zeitalters besaßen dieselbe Macht im Verhältnis zu ihrem geistigen Verständnis. Sie heilten die Kranken überall, ja, sie erweckten sogar die Toten. Mary Baker Eddy wurde es offenbart, in welcher Weise dies vollbracht wurde, und sie weihte ihr Leben rückhaltlos der Aufgabe, ihrer Entdeckung durch Unterweisung und Demonstration ewige Dauer zu sichern. Auf Seite 598 des Lehrbuchs der Christlichen Wissenschaft, „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift,“ sagt sie: „Ein Augenblick göttlichen Bewußtseins oder das geistige Verständnis von Leben und Liebe ist ein Vorschmack der Ewigkeit.“ Durch die sich zerteilenden Wolken des materiellen Sinnes erhascht der Christliche Wissenschafter Lichtblicke dieser großen Tatsachen und schreitet freudig dem Ziel des ewigen Lebens entgegen.
Denn meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie; und sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben; und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie mir aus meiner Hand reißen. Der Vater, der mir sie gegeben hat, ist größer denn alles; und niemand kann sie aus meines Vaters Hand reißen.— Joh. 10:27—29.
