Jesu Ausspruch „Denket an Lots Weib“ wird häufig angeführt, wenn von der menschlichen Neigung „zurückzuschauen“ die Rede ist. Tatsächlich bemerkt man im Gespräch mit dem Durchschnittsmenschen auffallend oft, wie sehr seine Zeit und seine Gedanken von der Vergangenheit in Anspruch genommen sind. Es gibt Menschen, die nie versäumen, uns mit betrübtem Herzen zu versichern, daß sie bessere Zeiten gesehen haben und daß sie an der heutigen Zeit nichts Gutes finden können. Andere beschäftigen sich fortwährend mit früheren Leiden und früheren Fehlgriffen oder Mißgeschicken, die entweder ihnen selbst oder anderen widerfahren sind, und erzählen ausführliche Geschichten über kleinliche Kränkungen und Kümmernisse der Vergangenheit. Solchen Gedanken nachzuhängen ist die schlimmste Art der Zeitvergeudung, denn die Menschen berauben sich dadurch der gegenwärtigen Gelegenheit, sich der Gesundheit, des Glückes und des Erfolges zu erfreuen. Die fortwährende Betrachtung der Vergangenheit lähmt unsere gegenwärtige Tätigkeit und bringt ein Gefühl der Unzufriendenheit und eine heimliche Furcht vor der Zukunft mit sich. Jedoch, das Böse ist materiell und zeitlich, und das Gute ist geistig. Das Gute kennt keine Zeitbeschränkung, sondern bleibet in Ewigkeit. Ein dankbares Herz sieht das Gute nie als wirklich vergangen an, sondern betrachtet vielmehr alles Gute, das ihm jemals zuteil ward oder ins Bewußtsein kam, als einen ununterbrochenen Segen, der sich bis auf den heutigen Tag und auf die heutige Stunde erstreckt.
Wer anfängt, sich für die Christliche Wissenschaft zu interessieren, nimmt wahr, ganz einerlei in welchen Verhältnissen er sich befindet, daß sich in seinem Denken manche Berichtigung vollzieht. Die falschen Annahmen geraten ins Wanken, der wahre Glaube festigt sich und wird zum Verständnis, und neue Ideen drängen sich in den Vordergrund. Viele Menschen jedoch wenden sich der Christlichen Wissenschaft erst dann zu, wenn sie einer sie übermannenden Katastrophe entfliehen wollen, in der fast alles verschüttet wird, worauf sie sich bisher verließen, woran sie gewöhnt waren und meistenteils auch das, was sie zu besitzen wähnten,— wenn allgemein anerkannte Grundsätze und Lebensgewohnheiten zusammen brechen und alle vertrauten Dinge der Zerstörung anheimzufallen scheinen. Eine solche Erfahrung berichtet die Bibel in der Geschichte über Lots Flucht aus Sodom.
Die Stadt, in der Lot mit seiner Familie wohnte, stand vor dem Untergang. Ihre Schuld war die der Unzüchtigkeit, und es war nicht genug Gutes in ihr vorhanden, um den Einwohnern das Leben zu erhalten. Lot wurde samt seiner Frau und seinen Töchtern dahin geführt, dies einzusehen, sie konnten also ihr Leben retten. Die Botschaft lautete: „Errette deine Seele und sieh nicht hinter dich.“ Aber Lots Weib konnte der mesmerischen Anziehungskraft, die das Böse zu besitzen vorgibt, nicht widerstehen. Sie wurde der Stimme der Weisheit ungehorsam und schaute hinter sich, und es wird berichtet, daß sie zur „Salzsäule“ wurde. Die Versuchung, nach dem eben verlassenen Irrtum zurückzuschauen, um zu sehen, wie bald und auf welche Weise er zerstört wird, drängt sich an uns alle heran. Geben wir ihr nach, so werden auch wir erfahren, daß wir vor Schreck erstarren und nicht fähig sind, vorwärts zu gehen, und daß wir dadurch verhindert werden, uns selbst und unseren Angehörigen zu helfen und dies gerade zu einer Zeit, da sie unserer Ermutigung und unseres Beispiels am meisten bedürfen.
Jesus sagte: „Denket an Lots Weib,“ als er von der Zeit redete, wo die geistige Idee sich offenbaren und mit der Herrlichkeit ihrer Erscheinung in einem Augenblick die eingebildete Sicherheit derer zerstören würde, die nur in den Sinnen leben. Klar und deutlich sprach er über die Notwendigkeit, dem Bösen zu entrinnen, und über die Torheit des Zurückschauens sowie des Versuchs, vielleicht doch wenigstens unsere Lieblings-Annahmen und -Gewohnheiten zu retten und sie in unsere neue geistige Zuflucht mit hineinzunehmen. Es ist jedoch ratsam, sich nicht an sie zu klammern, sondern sie fahren zu lassen, denn in dem neuen Betätigungsfeld und seinen Einrichtungen werden sie sich weder als gut noch als erhaben genug erweisen. An anderer Stelle sagte der Meister: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes.“ Ein Arbeiter muß auf seine Arbeit achten, sonst wird sie ihm nicht gelingen. Wer beim Pflügen hinter sich sieht, kann keine gerade Furche ziehen, und kein Mensch, der auf so flüchtige Art arbeitet, ist geschickt zum Reiche Gottes, denn das Reich Gottes verlangt von seinen Arbeitern vollständige Hingabe des Denkens und Strebens. Nur das Beste, das wir zu geben vermögen, ist gut genug. Wir müssen uns entschieden von dem Gedanken abwenden, der noch am Materiellen Interesse findet; wir müssen die einfältige Neugierde auf böse Vorkommnisse und Handlungen sowie die schmerzliche Sehnsucht nach weltlichen Dingen und Freuden aufgeben, ehe wir die Gesundheit und Glückseligkeit erlangen können, die Gott bereitet hat denen, die Ihn lieben.
„Was geschieht, das ist zuvor geschehen, und was geschehen wird, ist auch zuvor geschehen; und Gott sucht wieder auf, was vergangen ist,“ sagt der Weise im Buche Der Prediger. Gar manche Heilung zieht sich in die Länge, weil eine falsche Annahme ihren Schatten auf die Vergangenheit wirft. Es mag dies ein veralteter Groll sein, der halb unbewußt beherbergt wird, oder die hartnäckig festgehaltene Erinnerung an ein erlittenes Unrecht, vielleicht auch eine schon halb vergessene Kränkung, worüber doch noch Unwillen empfunden wird, oder heimlich nagende Gewissensbisse. Gewissensbisse sind die Furcht und die Scham, die immer entsteht, wenn man das Böse als etwas Wirkliches betrachtet. Man überwindet sie durch Reue, die uns veranlaßt, uns vom Bösen abzuwenden, nicht mehr die Verderbtheit unseres eigenen Herzens zu betrachten und das Gute als das anzuerkennen, das allein wert ist, gelebt und betätigt zu werden. Wenn die Sünde auf diese Weise aufgegeben ist, dann ist sie uns auch vergeben.
Die Kammer der Erinnerung muß gereinigt und von allen anstößigen Dingen gesäubert werden. Keine bitteren Worte, keine versäumten Pflichten, keine törichten Fehler — seien es unsere eigenen oder die anderer Menschen — dürfen darin zum Vermodern herumliegen. Der Sonnenschein der Liebe Gottes muß das ganze Bewußtsein erleuchten, wenn Gesundheit und Glück von Bestand sein sollen, denn „Gott sucht wieder auf, was vergangen ist.“ Um gehorsam zu sein und den Forderungen Gottes zu genügen, ist es notwendig, Gott und Seine Idee als das einzig Wirkliche anzuerkennen, das jemals war, je ist oder je sein wird. Demzufolge müssen wir auch von Herzen zugestehen, daß alles Böse, worunter wir samt der ganzen Welt gelitten haben, nie etwas anderes als Täuschung gewesen ist. Gott hat von jeher allen Raum erfüllt und war immer die einzige Macht, Substanz, Wahrheit, Liebe und das einzige Leben. Wenn wir das Böse in der rechten Weise betrachten, nämlich als Täuschung, dann können wir seine mutmaßlichen Wirkungen überwinden, denn eine Täuschung verliert ihre scheinbare Macht zu schaden, wenn man ihre trügerische Natur erkennt.
Mrs. Eddy schreibt auf Seite 451 von „Wissenschaft und Gesundheit“: „Der Mensch geht in der Richtung, nach der er blickt, und wo sein Schatz ist, da wird auch sein Herz sein.“ Wir sollten deshalb gewohnheitsmäßig vor uns schauen, nicht hinter uns, und darauf bedacht sein, unsere Gedanken mit Gutem anzufüllen und nicht mit Bösem. Sünden, Kümmernisse, Torheiten und Schmerzen der Vergangenheit müssen zurückgelassen werden, die Vergangenheit muß ihre Toten begraben. Wir brauchen nie hinter uns zu schauen und uns nicht zu grämen über die Zerstörung des Bösen oder über den Zusammenbruch der Schrecken erregenden Wahnbilder, denn alles Gute, das wir je gesehen, je besessen oder getan haben, ist unzerstörbar und unvergänglich; es ist unser auf ewig und erleuchtet und ermutigt uns auf unserem Wege. Das Ewige ist jetzt gegenwärtig und ist unser. Jetzt ist die Zeit zu arbeiten, zu wachen und zu beten, vorwärts zu dringen in Eintracht und Harmonie mit allen Ideen Gottes bis zur Erfüllung der verheißenen Freude, der Aufrichtung des Reiches Gottes „auf Erden wie im Himmel“— des Reiches, das aus Leben, Wahrheit und Liebe besteht, die stets gegenwärtig sind und sich immerdar kundgeben.
Gehet ein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis abführet; und ihrer sind viele, die darauf wandeln. Und die Pforte ist eng, und der Weg ist schmal, der zum Leben führet; und wenige sind ihrer, die ihn finden.— Matth. 7:13, 14.