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„Richtet nicht”

Aus der Juli 1923-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Als Jesus den Befehl gab: „Richtet nicht,” führte er eine Pflicht vor Augen, die die Menschheit erst nach Jahrhunderten zu begreifen anfing. Infolgedessen ist ihre rückhaltlose Erfüllung lange verzögert worden. Paulus sagte ebenfalls: „Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der da richtet. Denn worin du einen andern richtest, verdammst du dich selbst; sintemal du ebendasselbe tust, was du richtest.” Obwohl diese beiden großen Lehrer die Notwendigkeit betonten, persönliches Richten zu vermeiden, haben die Menschen doch mit verhältnismäßig wenig Ausnahmen ihre Mitmenschen weiter so ungehindert gerichtet und abgeurteilt, als ob die Ermahnung „Richtet nicht” überhaupt nicht gegeben worden wäre. Und das alles wegen des Glaubens an viele Gemüter, von denen jedes persönliche Beurteilungskraft haben soll.

Keine Gewohnheit ist wohl so allgemein verbreitet unter den Menschen wie die, über die Gedanken, Worte und Handlungen andrer zu Gericht zu sitzen. Tatsächlich nehmen gerade diese Dinge den Hauptteil im alltäglichen Denken und in der Unterhaltung der Menschen ein, und die verderblichen Folgen davon liegen selbst für den oberflächlichsten Beobachter auf der Hand. Allerdings ist unter Christen viel über das falsche und harte Urteilen geredet und jahrhundertelang ist Milde und Güte auf diesem Gebiete gepredigt worden. Nichtsdestoweniger hat sich vielleicht niemand zu grausamerem Richten verleiten lassen, als einige von denen, die sich Christen nannten, wofür die gegenseitigen Verfolgungen bei Meinungsverschiedenheiten über religiöse Glaubenssätze und Dogmen Zeugnis ablegen.

Jesus lebte die Wahrheit, die er lehrte, und doch sagte er: „Ich richte niemand.” Und obwohl er mit den Worten: „Richtet nicht nach dem Ansehen, sondern richtet ein rechtes Gericht,” deutlich dartat, wie falsches Richten vermieden werden kann, so ließen sich die Menschen doch weiter durch den Glauben an Personen blenden, bis die Forderung des christlichen Gesetzes, sich des falschen Richtens zu enthalten, fast so zum toten Buchstaben wurde, daß man das Richten über andre als völlig berechtigt betrachtete, ja, daß man es für einen Beweis von hoher Intelligenz hielt, wenn jemand fähig war, andre abzuurteilen.

Dann kam Mrs. Eddy und lehrte die Christlichen Wissenschafter, täglich um Befreiung von dem Übel des irrigen Richtens zu beten (siehe Kirchenhandbuch, Art. VIII, Abschn. 1). Damit stellte sie die Frage des Richtens so vor jedem einzelnen Schüler auf, daß an Ausweichen nicht zu denken ist. Auch sagte sie in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 391): „Wenn du ... dem Gericht der Wahrheit, Christi, überantwortet wirst, wird der Richter sagen: ‚Du bist gesund [vollkommen]!‘ ” Mit diesen Worten verlegte sie die Verantwortung für das Richten dahin, wo sie ganz allein hingehört. Nur die Wahrheit ist fähig, ein recht Gericht zu richten.

Das lenkt den Christlichen Wissenschafter unverzüglich auf sein eignes Bewußtsein hin und läßt ihn nachforschen, ob da die Wahrheit als der einzige Richter anerkannt wird. Erlaubt er ihr, Recht und Unrecht in seinem eignen Denken voneinander zu scheiden? Wendet er sich unablässig von der Betrachtung der Personen ab und dem Prinzip zu, um die Wahrheit über jede Lage und über alle Umstände zu erfahren und die Antwort auf alle Fragen zu finden? Wenn er andrerseits die Dinge vom persönlichen Standpunkt aus betrachtet, obwohl er sich einbilden mag, es vom geistigen aus zu tun, wird er weiter in dem Gemütszustand verbleiben, der das Böse für wirklich hält. Und wie kann er dann davon befreit werden?

Anfangs, wenn der Christliche Wissenschafter sich der Tatsache gegenüber sieht, daß er jeden Gedanken der Wahrheit untertan machen muß, wenn er erkennt, daß er nichts durch die Tür seines Denkens eindringen lassen darf, das nicht in Gott, dem göttlichen Gemüt, seinen Ursprung hat, dann ist er manchmal geneigt, sich über alles Reden und Tun seines Bruders zum Richter einzusetzen. Er sagt sich: Muß ich nicht alle Gedanken beurteilen, die mir entgegentreten? Und wenn ich meinen Bruder etwas tun sehe, was nicht mit dem Prinzip übereinstimmt, muß ich mir dann nicht ein richtiges Urteil bilden, damit ich meine Tür vor seiner falschen Auffassung der Dinge verschließen kann? Das ist die Klippe, an der mancher Christliche Wissenschafter gescheitert ist. Denn dadurch, daß er sich selbst zum Richter ernennt, kann die Selbstgerechtigkeit so festen Fuß in ihm fassen, daß der so betörte Schüler schließlich dahin kommt zu glauben, er allein könne zwischen Recht und Unrecht, zwischen Wahrheit und Irrtum unterscheiden.

Dieser Pharisäismus der menschlichen Annahme kann sich so stark entwickeln, daß ein Schüler womöglich viel Zeit damit verbringt, Gott dafür zu danken, daß er nicht ist wie andre Menschen! Da er sich selbst für den Richter hält, sieht er seinen Bruder nur als Sünder, und indem er die Sünde vom mehr oder weniger persönlichen Standpunkt aus betrachtet, gibt er ihr anscheinend eine Grundlage in seinem Denken. So liefert er ein Beispiel für die Worte des Paulus: „Worin du einen andern richtest, verdammst du dich selbst; sintemal du ebendasselbe tust, was du richtest.” Mit andern Worten: Du‚ der du das Böse als mit der Person verbunden betrachtest, machst es durch deine eigne Annahme wirklich. Wenn wir Zeit und Gedanken damit verschwenden, das Denken, Reden und Handeln unsrer Mitmenschen danach abzuwägen, ob sie mit unserm Verständnis vom Guten übereinstimmen, machen wir den Versuch, uns an den Platz der Wahrheit zu stellen, die der einzige Richter ist.

Nun, dies alles ist sehr weit entfernt von dem Gemütszustand, der sich selbst sowohl wie den Bruder „dem Gericht der Wahrheit” überliefert, wo der Richter sagen wird: „Du bist gesund [vollkommen]!” Dieses rechte Richten ist nur möglich, wenn man sich von der Persönlichkeit ab und dem Prinzip zuwendet. Niemand ist dazu imstande, der ein Übel nach dem Ansehen beurteilen will. Um „ein rechtes Gericht” richten zu können, muß man von der Wahrheit ausgehen und bei ihr beharren. Sich fest an die Wahrheit halten und sich weigern, irgend etwas scheinbar Böses für wirklich zu halten: das wird uns helfen, unser Denken mit dem göttlichen Gemüt in Übereinstimmung zu bringen. Und das muß allen zum Segen gereichen.

Ein Christlicher Wissenschafter muß oft viele Jahre beten und sich ernstlich bemühen, bis er einsieht, daß die einzige Pflicht gegen seinen Bruder darin besteht, Gutes für ihn wiederzuspiegeln. Es ist nicht seine Aufgabe zu entscheiden, wie nahe sein Bruder dem Himmelreich ist oder wie würdig er ist, hineinzukommen. Die Wahrheit wird alles abwägen, was seinem Bruder gehört, und auch alles, was ihm selbst gehört. Darum wollen wir uns beeilen, unserm Bruder zu helfen, so wie wir möchten, daß er uns hülfe, nämlich dadurch, daß wir ihn dem Gericht der Wahrheit überlassen. Man stelle sich vor, wie uns das befreien würde! Denn wenn wir uns nicht mehr mit unsres Bruders vermeintlichen Schwächen und Torheiten beschäftigen, werden wir Zeit haben, uns mit unsern eignen Fehlern zu befassen und sie zu überwinden! Dann werden wir vereint freudig den Weg zu der himmlischen Stadt hinanwandeln, in die nur eingelassen wird, was vor dem Richterstuhl der Wahrheit bestanden hat.

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