Kein Schüler der Christlichen Wissenschaft vergißt je das beseligende Licht, das mit der ersten Entfaltung der Wahrheit über Gott, den Menschen und das Weltall in sein Bewußtsein dringt. Aber mit der Zeit wird ihm die stets gegenwärtige Verheißung: „Ich will dich unterweisen und dir den Weg zeigen,” gewiß ebenso teuer. Obwohl die Unterweisungen des Vaters unbeschränkt sind, so sind sie doch unserm gegenwärtigen Bedürfnis und Verständnis stets liebevoll angepaßt.
Es ist noch nicht lange her, daß das Gleichnis von den zehn Jungfrauen mir zu einem besonders hilfreichen und fesselnden Teil der Lehre Jesu wurde. Lebhaft kann ich mich erinnern, daß ich als Kind den törichten Jungfrauen meine Zuneigung schenkte und daß jedesmal, wenn mir das Gleichnis vorgelesen wurde, die klugen Jungfrauen als fünf recht unerbittliche und selbstgerechte Frauen vor meinem geistigen Auge standen. Kürzlich wurde nun dieses Gleichnis in der Mittwochabend-Versammlung einer Kirche Christi, Wissenschafter, vorgelesen und schien mich dabei mehr anzusprechen, als es je der Fall gewesen. In Erinnerung daran griff ich am nächsten Morgen nach der Bibel und las es nochmals durch. Mein kindliches Mitleid mit den törichten Jungfrauen hatte sich durch mein Studium der Christlichen Wissenschaft in Mitgefühl und Liebe für diejenigen verwandelt, die den Christus, die Wahrheit, noch nicht erkannt haben, und mit einem Gefühl, das fast an Schmerz grenzte, dachte ich daran, wie manche von uns, obwohl sie die heilende Wahrheit kennen, doch manchmal das Licht aus den Augen verlieren, wenn auch nur einen Tag oder selbst eine Stunde lang. Ach, daß wir uns vom Schlaf übermannen lassen müssen, so wie die Jünger schliefen, als der Meister verraten wurde! Und die Jünger wußten doch ganz genau — und wir wissen es auch—, was der Meister über Wachsamkeit lehrt.
Aus dem Gleichnis geht nicht hervor, daß die Jungfrauen den Bräutigam (das Sinnbild des Christus) vorher noch nie gesehen hatten. Man kann wohl annehmen, daß sie sehr gut wußten, wie licht und herrlich diese heilende Gegenwart war. Manche von uns, die wir uns Christliche Wissenschafter nennen, wissen aus Erfahrung, daß die Mitternachtstunden, jene dunkeln Stunden des Schmerzes und der Furcht, manchmal an uns herangetreten sind, wenn wir kein Öl in der Lampe unsres geistigen Verständnisses hatten. Die bloße Tatsache, daß wir uns mit der Christlichen Wissenschaft beschäftigen, bedeutet noch nicht, daß wir nun für immer zu den klugen Jungfrauen gehören. Wir müssen es vielmehr täglich beweisen, denn wenn man klug sein will, muß man fleißig forschen und beten und angesichts jeder scheinbaren Disharmonie dem Gebot gehorchen: „Seid stille und erkennet, daß ich Gott bin.” Unachtsamkeit in unserm Denken jedoch und Nachlässigkeit in dem Bemühen, mehr über Gott, das Gute, zu erfahren, versetzt uns sicherlich in die Reihe der törichten Jungfrauen, selbst wenn wir früher infolge unsres Verständnisses der durch die Christliche Wissenschaft gelehrten Wahrheit Tatbeweise gehabt haben.
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