Wir können uns nur eines Augenblicks auf einmal bewußt sein, und in dem Augenblick sollten wir ausschließlich gute Gedanken denken. Der Irrtum möchte uns annehmen lassen, daß eine andre Zeit wichtiger für uns sei als die gegenwärtige, auch daß wir in der Gegenwart nicht all das Gute vollbringen können, was wir möchten, da wir in der Vergangenheit gewissen Hemmungen unterworfen waren. Und er will uns beweisen, daß uns auch morgen Grenzen gesetzt sein müssen, weil wir heute nicht alles schaffen können, was vor uns liegt. Alles Gute jedoch, alles was je war und je bestehen wird, besteht jetzt, und keine noch so trübe Vergangenheit hat auch nur ein Tüttelchen vom Guten zerstören können, noch hat sie die Macht, uns im gegenwärtigen Augenblick des Guten zu berauben. Es scheint schwer, unentwegt an der Tatsache festzuhalten, daß das Heute alles Gute für uns bereit hat — alles, was an Leben, Liebe und Wahrheit vorhanden ist — und daß das Morgen, wenn es da ist, nur ein andres Heute sein wird. Doch dieses Verständnis kann erlangt werden, sonst würde uns die Aufgabe nicht gestellt sein.
Wenn wir heute Gedanken der Gesundheit, der Liebe und Freude, des Friedens und der Fülle hegen, errichten wir einen unüberwindlichen Wall gegen die dunklen Ahnungen über das kommende Morgen. Die Annahme, daß das Böse in vergangenen Tagen wirklich war, führt dazu, daß wir uns heute davor fürchten und vor dem Morgen Grauen empfinden. Wie können wir auf dem Wege des Guten vorwärts kommen, wenn wir immer wieder rückwärts blicken und auf ein allein in unsrer Vorstellung bestehendes Grabmal hinweisen, das wir über der Begräbnisstätte vergangener Leiden und Sorgen errichtet haben? Der Irrtum hat nie eine Stätte gehabt. Warum versuchen wir also, ihm einen bestimmten Ort anzuweisen, indem wir unsern Freunden ganz genau berichten, wo, wann und wie er sich zugetragen hat? Die Wahrheit ist, daß in Wirklichkeit außer Gottes Güte, Gnade, Gerechtigkeit und Liebe nie etwas in die Erscheinung getreten ist, und es ist nicht schwer, dieser Tatsache stets eingedenk zu sein und zu vergessen, was nie gewesen ist! Wir müssen willig sein, das Feuer ausgehen zu lassen, nachdem wir einmal unversehrt durch den feurigen Ofen der Trübsal gegangen sind. Halten wir uns die gegenwärtigen Segnungen gebührend vor Augen, dann weicht die trübe Vergangenheit völlig aus dem Bewußtsein.
Kinder sind in dieser Hinsicht oft klüger als Erwachsene, denn sie erinnern sich gewöhnlich nur der Freude, die sie in der Vergangenheit erlebt haben. Der Irrtum möchte ja gerade dadurch lebendig und wirksam erhalten werden, daß wir ihn in der Erinnerung hegen und über unsre eignen früheren Leiden und Sünden sowie über die unsrer Mitmenschen nachdenken. Wenn Gott das unveränderliche Gute ist und wir jetzt wohl und glücklich sind, so ist das die einzige Wahrheit, die es je über uns geben kann. In der Christlichen Wissenschaft geheilt werden heißt nicht, von wirklichen Krankheiten, Sünden und Sorgen befreit werden, sondern nur von der irrtümlichen Annahme, daß es solche gibt. Und wenn wir einmal eine Annahme als falsch bewiesen haben, so ist es unklug, sich dazu verleiten zu lassen, von ihr als von einer vergangenen Tatsache zu sprechen. Zur rechten Zeit und am rechten Orte Dankbarkeit für empfangene Heilung zum Ausdruck zu bringen, ist unser heiliges Vorrecht, aber die trübe Seite unsrer Erfahrungen sollte zum Schutz für uns und andre so wenig wie möglich berührt werden.
Mrs. Eddy schreibt in No and Yes (S. 24): „Es hat nie einen Augenblick gegeben, wo das Böse wirklich war.” Wenn das Böse also in der Vergangenheit nicht wirklich war, dann ist es auch heute nicht wirklich und kann es in Zukunft ebensowenig sein. Die Annahme von einer Vergangenheit entspringt dem Glauben, daß wir darin etwas zu unserm Glück Unerlässiges zurückgelassen haben, nämlich unsre Jugend und unsre Kraft, liebe Menschen oder gute Gelegenheiten. In Wahrheit ist jedoch das Jetzt die einzige Zeit, die je war oder sein wird, und es ist überreich an Segnungen für die Kinder Gottes. Da Sünde, Krankheit und Tod Gott unbekannt sind, können sich diese Irrtümer in Wirklichkeit in der Erfahrung des Menschen, der das Bild und Gleichnis Gottes ist, gar nicht kundtun, und es ist darum unsre Pflicht unserm himmlischen Vater und unsern Mitmenschen gegenüber, jede Einflüsterung des Bösen aus der Vergangenheit oder der Gegenwart aus dem Bewußtsein auszumerzen und in der freudigen Gewißheit zu verharren, daß die göttliche Liebe gegenwärtig ist. Unser aufrichtiges Bemühen nach dieser Richtung hin wird bald durch ein klareres Verständnis von der Nichtsheit des Bösen belohnt werden.
Bis die Christliche Wissenschaft in das Verständnis eindringt und die Furcht sowohl wie den weltlichen Ehrgeiz rügt, scheint das menschliche Denken oft ganz davon in Anspruch genommen, vergangene Mißerfolge zu beklagen oder auf kommende Siege zu hoffen. Paulus sagt jedoch: „Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich zu dem, das da vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten Ziel, nach dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu.” Wir sollten so ganz damit beschäftigt sein, unser Verständnis von der Christlichen Wissenschaft freudig zu betätigen, daß wir für nutzloses Bedauern und Murren keine Zeit haben. Die Welt kann nur dann durch die Christliche Wissenschaft gesegnet werden, wenn das menschliche Denken darauf vorbereitet ist, sie aufzunehmen. Darum sollten wir ohne Verzug mit der Arbeit in unserm eignen Bewußtsein beginnen.
Gott ist allgegenwärtig, allmächtig und allwissend, und Seine Schöpfung ist jetzt vollkommen und harmonisch. Wenn wir uns bemühen, diese grundlegenden Tatsachen über die Schöpfung zu erfassen und uns zu eigen zu machen, werden wir allmählich und fast unmerklich christusähnlicher und bringen mehr Vollkommenheit und Harmonie zum Ausdruck. Die kleinlichen Vorkommnisse des täglichen Lebens kommen uns weniger wichtig vor und beunruhigen uns nicht mehr. Wir wissen, daß sie nicht dem göttlichen Prinzip entstammen, daß sie also vergänglich sind. Und wir lehnen es ab, uns durch Dinge stören zu lassen, die in der Eile der kommenden Ereignisse bald vergessen sein werden.
Die Christliche Wissenschaft lehrt uns, wie wir Gott finden können, aber sie kann uns nicht zwingen, Ihn zu finden. Das ist allein unsre Aufgabe, die wir nur erfüllen können, wenn wir täglich und stündlich den geistigen Forderungen nachkommen. Wir können nicht erwarten, daß Gott gottähnlicher, vollkommener und besser werde, noch daß Er sich uns auf einer andern Daseinsstufe oder zu einer andern Zeit in vollerem Maße offenbaren werde. Wir sollten aber erwarten, daß Er uns die Fähigkeit verleiht, uns Seine Vollkommenheit und unsre Beziehung zu Ihm immer klarer zu vergegenwärtigen. Daß wir in der Vergangenheit gehorsam waren, entbindet uns nicht der Pflicht, jetzt gehorsam zu sein, noch kann der Vorsatz, später Besseres zu leisten, uns den Tadel für unsre gegenwärtigen Fehler ersparen.
„Sehet, jetzt ist die angenehme Zeit, jetzt ist der Tag des Heils!” sagte der Apostel Paulus. Nicht nächste Woche oder nächstes Jahr, sondern jetzt ist die göttliche Liebe bereit und willig, völlige Erlösung zu gewähren, und wahrscheinlich hindert uns nur diese Neigung zum Aufschieben daran, den Strahlenglanz der Vollkommenheit zu sehen. Weder menschlicher Einfluß noch eine gegebene Lage vermögen unsre Heilung auch nur einen Augenblick zu hindern, wenn wir bereit sind, uns Gott von ganzem Herzen zu ergeben. Und das können wir sicherlich heute ebensogut tun wie morgen. Mrs. Eddy schreibt in Miscellaneous Writings (S. 340): „Vollkommenheit kann nur durch Arbeit errungen werden; und die Zeit zum Arbeiten ist jetzt.”
Jesus, der die langen Zeitalter unerleuchteten Denkens voraussah, die vergehen würden, bis die Welt für die Christliche Wissenschaft empfänglich sein würde, sagte: „Ich muß wirken die Werke des, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.” Solange unsre Entfaltung nur stufenweise vor sich zu gehen scheint, tun wir gut daran, den Augenblick auszunutzen. Sündige Annahmen von gestern erzeugen heute sündige Annahmen und Gewohnheiten, und diese wiederum werden morgen noch größere Sünden erzeugen, wenn wir ihnen nicht beständig durch rechtes Denken und Handeln entgegenwirken. Willenskraft und Beeinflussung jedoch können das geistige Wachstum nie fördern, sondern höchstens verzögern. Die argen Anstrengungen dieser Art entspringen der Tätigkeit des sogenannten sterblichen oder fleischlichen Gemüts und wirken entartend. Alles Übel geht aus der Annahme hervor, daß es ein von Gott getrenntes Gemüt gibt. Bringen wir uns aber mit dem Willen des einen Gemüts in Einklang, dann entthronen wir das Übel.
Der Frühling ist der süße Vorbote des strahlenden Sommers und des fruchtbaren Herbstes. Steht nicht der Christliche Wissenschafter von heute im Frühling seiner geistigen Erfahrungen, die sich ihm unter den Strahlen der fürsorgenden Liebe Gottes entfalten? Selbst wenn wir es könnten, würden wir das Nahen des Sommers unsrer weiteren geistigen Entfaltung nicht ungebührlich beschleunigen. Ebensowenig brauchen wir zitternd in dem überlangen Winter des verdunkelten Denkens zu verharren, während ringsum der Frühling sprießt, weil wir meinen, uns in der heutigen Zeit nicht auf Gott verlassen zu können. Doch gibt uns unsre verehrte Führerin im Vorwort zu „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. vii) nicht die freudige Versicherung: „Für alle, die sich auf den erhaltenden Unendlichen verlassen, ist das Heute reich an Segnungen”?