In der Auslegung des Ersten Buchs Mose, die Mrs. Eddy in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 541) darbietet, fügt sie der Stelle: „1. Mose 4, 8. Da ... erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot” folgende Erklärung bei: „Die irrige Annahme, daß Leben, Substanz und Intelligenz materiell sein können, bricht das Leben und die Brüderschaft des Menschen gleich von Anfang an”. Hier zeigt uns unsere Führerin, warum die Brüderschaft der Menschen durch alle Zeiten der menschlichen Geschichte hindurch nicht verwirklicht worden ist. Die Annahme, daß das Leben auf materieller Grundlage ruht, ganz und gar in der Materie ist und von ihr unterstützt wird, hat die Verwirklichung der wahren Brüderschaft verhindert,—jene Einheit, die notwendigerweise eine geistige Grundlage hat, da es in Wahrheit nur einen Vater gibt, in dem alle Menschen „leben, weben und sind”.
Kein Christ würde leugnen, daß eine wichtige Pflicht, deren Erfüllung seine Religion von ihren Nachfolgern verlangt, das Anerkennen jener geistigen Einheit ist, die wir die Brüderschaft der Menschen nennen. Das wiederholte Hinweisen Christi Jesu auf die große Tatsache der Vaterschaft Gottes hatte unvermeidlich seine Lehre von der geistigen Brüderschaft zur Folge. Der gleiche Gedanke ist unauflöslich in das Gewebe der Christlichen Wissenschaft gewoben. Der Vater-Mutter Gott ist der alleinige Schöpfer eines vollkommenen unendlichen und ewigen Weltalls, in dem alle Menschen Brüder sind, weil sie alle Ideen des einen Gemüts sind. Das Verständnis, daß das unendliche Gemüt Alles-in-allem ist, schließt jede Gelegenheit der Anerkennung, Förderung oder Ausbreitung einer andern Macht als der des göttlichen All aus, die irgendwie als Schöpfer oder Gründer eines wetteifernden Reichs wirken könnte.
Christus, die ideale Wahrheit, die unter den Menschen gegenseitiges Wohlwollen fördert, wirkt auch für Frieden und Freundschaft unter den Völkern und für den Fortschritt der geistigen Entfaltung aller Menschen. Nur dadurch, daß man sich an den Christus hält, wird die allgemeine Wohlfahrt gefördert; und das ist eine Aufgabe, der sich die Christen in aller Welt mit ganzer Hingabe widmen sollten. Die geradezu zahllosen Einrichtungen, die das Wohlwollen der Menschen untereinander fördern sollen, sind lobenswert, insofern sie den Sterblichen einen besseren Einigkeits-, Zusammengehörigkeitsund Selbstlosigkeitsbegriff geben und die Freude erzeugen, einander zu dienen. Das Verhältnis der Völker untereinander ist jedoch sonderbar, ja, fast unerklärlich. An Stelle von brüderlicher Liebe, die die Menschen untereinander verbindet, scheint in den Beziehungen zwischen den Völkern krasse Selbstsucht, Neid, Groll und nur zu oft Bitterkeit und Haß zu sein, was sie zu abwartenden, wenn nicht zu tätigen Feinden macht. Obwohl Menschen verschiedener Abstammung als Burger eines Landes unter derselben Fahne friedlich beieinander wohnen, besteht zwischen ihren Stammvölkern oft Haß und Feindseligkeit.
Der wahre Christ hegt keine bösen Gedanken über seinen Nächsten. Er meidet ihn nicht, und betrachtet ihn nicht als Feind, sondern sieht vielmehr in ihm einen Freund, der, wie er selbst, aus Beweggründen der Achtung und Güte handelt. Ebensowenig kann ein Volk, wenn es seiner Christenpflicht nachkommen will, und besonders wenn seine Brudervölker in Not sind, sich von diesen zurückziehen, sei es aus Furcht, in Schwierigkeiten verwickelt zu werden oder auf selbstsüchtige Vorteile verzichten zu müssen. Furcht geziemt sich für ein Volk auch nicht mehr als für den einzelnen Menschen; ebensowenig ist Selbstsucht rühmenswert. Wo in der christlichen Lehre finden wir, daß der Selbstsucht der Völker mehr Rechtfertigung widerfährt als dem Verfolgen selbstsüchtiger Wege der einzelnen Menschen? Betont nicht des Meisters Botschaft an die Menschheit die Notwendigkeit, einander zu dienen? Wie anders könnte man sein schönes Beispiel von Demut und Güte auslegen, das er uns gab, als er kurz vor dem Abendmahl den Jüngern den demutsvollen Dienst der Fußwaschung erwies? Schließt nicht diese Begebenheit den Hinweis auf die Notwendigkeit eines äußerst liebevollen und wohlwollenden Verhaltens gegen alle unsere Mitmenschen in sich?
Hört die christliche Pflicht an der Landesgrenze auf? Wenn nicht, wie ist dann der Schluß gerechtfertigt, daß Menschen in Gruppen, die Völker genannt werden, von der Verantwortlichkeit befreit seien, die den einzelnen Menschen in der genauesten Erfüllung ihrer Christenpflicht, sowohl dem Buchstaben als auch dem Geiste gemäß, zufällt? Was für eine Besserung würde es in den Angelegenheiten der Welt zur Folge haben, wenn ein solcher Gebrauch zwischen den Völkern einmal bleibend eingeführt wäre! Kriegsrüstungen würden ein Ding der Vergangenheit, Mittel zur gegenseitigen Verteidigung niedergerissen werden, und die ganze Kraft der Völker könnte darauf hinarbeiten, jenen vollkommenen Frieden auf Erden und den Menschen das Wohlgefallen zu fördern, die von den Engeln als der Zweck des Kommens des Christus angekündigt wurden. Sollten also nicht alle Christen die Schritte unterstützen, die in dieser Richtung unternommen werden?
Alles Gute kann wohl nicht auf einmal vollbracht werden; das sollte aber nicht den Anfang verzögern oder einen daran hindern, das Nächstliegende zu tun, das die Freundschaft der Völker untereinander irgendwie fördern würde. Die Ermahnung des Propheten: „Gebeut hin, gebeut her; gebeut hin, gebeut her; harre hier, harre da; harre hier, harre da; hier ein wenig, da ein wenig!” veranschaulicht deutlich einen Vorgang, der genau so bei der Heilung des Bewußtseins der Völker wie bei derjenigen des einzelnen Menschen anwendbar ist. Doch ein Anfang muß gemacht werden. Sollen wir nicht die Gelegenheiten, die sich den Völkern jetzt bieten, sich der Aufrichtung der wahren Brüderschaft zu nähren, unterstützen und wertschätzen? Im Boston Globe vom Dezember 1904 (Miscellany, S. 278) gab Mrs. Eddy der Welt folgende Botschaft: „Nichts wird gewonnen durch Kämpfen, aber viel geht verloren. Friede ist die Verheißung und der Lohn der Rechtlichkeit. Die Regierungen haben kein Recht, der Zivilisation das Possenspiel einer rohen Staatswirtschaft einzupflanzen”. Und im folgenden Abschnitt fügt sie hinzu: „Das Prinzip aller Macht ist Gott, und Gott ist Leibe. Was immer in das menschliche Denken oder Handeln ein der Liebe entgegengesetztes Element bringt, ist nie erforderlich, nie eine Notwendigkeit, und wird nicht von dem Gesetz Gottes, dem Gesetz der Liebe, gutgeheißen. Der Gründer des Christentums sagte:, Meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt‘”.
