Es ist nichts Außergewöhnliches, daß die Sterblichen versuchen, auf diejenigen, die ihnen zugesellt sind, seien es ihre Mitarbeiter, ihre Familienangehörigen oder ihre Schüler in öffentlichen oder in Privatschulen — kurz, auf alle, mit denen sie in menschlichen Beziehungen irgend welcher Art stehen, einen zwingenden und ungebührlichen Einfluß auszuüben. Dieser Zwang erfolgt häufig als Ausdruck des Wunsches, denen, deren Freiheit umgrenzt wird, eine Wohltat zu erweisen. Oft ist er der Sorge um das Wohlergehen eines andern zuzuschreiben; trotzdem hat er, wenn er nicht mit wissenschaftlichem Verständnis ausgeübt wird, eine Wirkung zur Folge, die gerade das Gegenteil dessen ist, was man erwartet. Anstatt daß er ein Gefühl der Dankbarkeit für empfangene Hilfe und erwiesene Fürsorge hervorruft, erregt er eher ein Gefühl des Grolls, ja, sogar des Hasses,— einen Zustand, aus dem nichts Gutes hervorgehen kann.
So sorgfältig behandeln die wahrhaft Weisen diese Frage, daß sie kaum geneigt sind, etwas anderes zu tun, als über andere richtig zu denken, indem sie an den Tatsachen des Seins und an Gottes Regierung Seiner Kinder festhalten. Die Eltern beginnen, klarer zu sehen, daß die Zucht der Kinder in der Hauptsache eine metaphysische Frage ist. Sie lernen verstehen, daß alle Kinder Gottes durch den göttlichen Willen harmonisch und beständig regiert werden, und daß diese gerechte Regierung sich im Verhältnis zu ihrem eigenen rechten Denken und Handeln kundtut. Sie lernen immer besser verstehen, ihre Lieben in Gottes Hand zu lassen, da sie sehr gut wissen, daß die göttlichen Ideen nie Seinem Auge entgehen noch es wagen können, sich dem Einfluß Seiner Liebe und Fürsorge je zu entziehen. In dem Maße, wie dies verstanden wird, gedeihen die Kinder und wachsen in der Gnade und im Geiste des Gehorsams, indem sie die unaussprechliche Freude bekunden lernen, in Übereinstimmung mit Gott zu leben.
In Ausdrücken, die alle verstehen können, hob Mrs. Eddy die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Behandlung dieser Frage hervor. Auf Seite 62 von „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” sagt sie: „Die ganze Erziehung der Kinder sollte derart sein, daß sie den Gehorsam gegen das moralische und geistige Gesetz zur Gewohnheit macht, wodurch das Kind der Annahme von sogenannten physischen Gesetzen, einer Annahme, die Krankheit großzieht, entgegentreten und sie meistern kann”. Wie wichtig es doch ist, daß die Kinder hierin unterwiesen werden, nicht in erster Linie in dem Bestreben, sie zu zügeln, sondern in der Gewißheit, daß ihnen der volle Gehorsam gegen das göttliche Gesetz das denkbar größte Gefühl von Freiheit bringen wird. Forderte Christus Jesus nicht nachdrücklich von seinen Nachfolgern: „Lasset die Kindlein und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen; denn solcher ist das Himmelreich”? Was konnte das Kommen zum Meister, dem sanftesten aller Menschen, anderes bedeuten als das Erlangen eines Verständnisses von dem Christus, der Wahrheit, womit Jesus so herrlich ausgerüstet war? Diente seine Ermahnung nicht zu ihrem Wohl? Man kann unmöglich vermuten, daß der Meister etwas anderes im Herzen hegte als die barmherzigste Liebe für diese Kleinen, oder daß er etwas anderes äußerte als den vollsten Wunsch, ihr Wohlergehen zu fördern. Sollten wir nicht gegen die Gebote des größten Lehrers aller Zeiten gehorsam sein? Sicherlich sollten wir nicht weniger gegen seine Worte über die Kleinen gehorsam sein als gegen solche, die irgend ein anderes Gebiet des menschlichen Lebens betreffen.
Der zuweilen auf andere ausgeübte Zwang ist oft der Ausdruck der Selbstsucht. Er ist ein Beispiel des Verlangens des sogenannten sterblichen Gemüts, zu herrschen, sich durch das Ausüben einer Herrschaft zu erhöhen. Er möchte die rechtmäßigen Tätigkeiten eines andern umgrenzen und einschränken, um dadurch für sich etwas zu gewinnen, sei es auch nur die Befriedigung eines Gefühls von Eigendünkel. Sieht man jedoch ein, daß das Ergebnis dieser falschen Haltung darin besteht, daß man sich selbst in Knechtschaft hält, so erscheint der Preis zu hoch. Es ist sprichwörtlich, daß ein knechtendes Volk selbst geknechtet wird, so daß es gerade unter dem Zustand leidet, den es anderen auferlegen möchte. Unter der Überschrift „Mentale Emanzipation” sagt unsere Führerin (Wissenschaft und Gesundheit, S. 224, 225): „Wahrheit bringt die Elemente der Freiheit. Auf ihrem Banner steht das seeleninspirierte Motto: ‚Die Sklaverei ist aufgehoben.‘ Die Macht Gottes bringt den Gefangenen Befreiung”. Und sie fügt hinzu: „Alles, was den Menschen zum Sklaven macht, ist der göttlichen Regierung entgegengesetzt. Wahrheit macht den Menschen frei”.
Da Mrs. Eddy die Neigung des sterblichen Gemüts zu herrschen erkannte, schützte sie die zahlreichen Tätigkeiten der Christlichen Wissenschafter durch Regeln und Vorschriften, deren außerordentliche Weisheit in dem Maße immer mehr offenbar wird, wie sich der Weg der Wahrheit entfaltet. Anstatt daß diese Vorschriften die einzelnen Mitglieder Der Mutter-Kirche der Freiheit berauben, steigern sie diese. Als Bürgschaften für wahre Freiheit geben sie allen im Verhältnis zu ihrem geistigen Verständnis gleiche Gelegenheit und gleiche Rechte. Eine der hilfreichsten dieser Vorschriften behandelt das Verhältnis zwischen den Lehrern der Christlichen Wissenschaft und ihren Schülern. Wie vollständig die Pflicht des Lehrers gegen den Schüler doch bestimmt ist! Indem Mrs. Eddy dem Lehrer der Christlichen Wissenschaft ausdrücklich verbietet, seine Schüler zu beherrschen oder sich anzumaßen, sie zu beaufsichtigen, erklärt sie im Kirchenhandbuch (S. 83): „Sondern er soll sich moralisch verpflichtet fühlen, ihren Fortschritt in der Erkenntnis des göttlichen Prinzips zu fördern, und zwar nicht nur während der Zeit des Klassenunterrichts, sondern auch später, und er hat darüber zu wachen, daß sie eine gute Gesinnung an den Tag legen und sich in der Christlichen Wissenschaft als praktisch erweisen”. Dies bietet dem Schüler im Dartun seiner Demonstration, in der Auswahl seines Praktikers in Zeiten der Not und in der Ausarbeitung der mannigfaltigen an ihn herantretenden Fragen den weitesten Spielraum. Kann man an dem für Lehrer und Schüler gleicherweise bestehenden Segen dieser gegenseitigen Unabhängigkeit zweifeln? Sie vermindert keineswegs den Wert der einzigartigen Beziehung zwischen Lehrer und Schüler; sondern es erweist sich wiederum, daß der Freiheit durch die wissenschaftliche Bewahrung der Unabhängigkeit am besten gedient wird.
