Den Lesern der Apostelgeschichte ist die Stelle am Anfang des dritten Kapitels wohl bekannt, wo erzählt wird, wie Petrus und Johannes den Mann antrafen, der so lang scheinbar hilflos an der Tempeltür gelegen hatte,— an der „Tür, die da heißt ‚die schöne‘”. Wie erinnerlich‚ pflegte dieser Mann sich täglich dorthin tragen zu lassen, um von denen, die im Tempel ausund eingingen, Almosen zu erbitten bis zu jenem Tage, an dem Petrus „ihn bei der rechten Hand griff und ihn aufrichtete”‚ so daß er mit Petrus und Johannes zusammen in den Tempel ging „und sprang und lobte Gott”.
Jahrelang hatte dieser Mann täglich am Eingang gelegen und wahrscheinlich unmittelbar vor sich gesehen, was zu erlangen, zu besitzen und zu genießen ordnungsund rechtmäßig für ihn gewesen wäre. Ein böser Sinn hielt ihn gerade da gefangen, wo er sich schlechterdings damit begnügen mußte, das Kommen und Gehen anderer, die er natürlich für glücklicher hielt als sich selbst, zu beobachten und von ihnen etwas von dem, was sie gesammelt hatten, zu erbitten und zu erhalten. Es muß eine sehr qualvolle Lage für ihn gewesen sein; und man kann sich wohl vorstellen, daß er, nachdem er sich diese langen Jahre hindurch darin befunden hatte, zu der Überzeugung gekommen sein mußte, daß dies tatsächlich das Los seines Lebens sei, und daß er weder etwas anderes erwarten noch sich darüber erheben könne.
Doch es kam der Tag, an dem sich alle diese Annahmen als trügerisch erweisen sollten und in einem Augenblick zerstört wurden; denn es ruhte auf dem Leidenden der Blick derer, die von dem Christus, der Wahrheit‚ ein Verständnis hatten, das ausreichte‚ um den Anmaßungen des Bösen die Maske abzunehmen und ihre Nichtsheit zu beweisen. Die Jünger entsprachen seinen Erwartungen durch Spenden der erbetenen Almosen nicht; sondern statt dessen wurde er durch ihre Erkenntnis der Wahrheit emporgehoben und von seiner langen Knechtschaft befreit, so daß er mit den anderen durch die schöne Tür gehen und an jenen Dingen teilnehmen konnte, deren Gebrauch und Genuß ordnungsund rechtmäßig für ihn war! Es war ein herrlicher Augenblick; und wir lassen nicht außer acht, daß er, indem er ihn sich zunutze machte, Gott für seine Befreiung pries!
Natürlich war es kein Wunder im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Wir können uns vorstellen, wie ungestüm Petrus diesen Gedanken zurückgewiesen hätte‚— der praktische, nüchterne Petrus, der aus eigener Erfahrung für sich die trostreiche Gewißheit, die er mit der ganzen Menschheit teilte, erlangt hatte. „daß Gott die Person nicht ansieht”. Wie könnte Gott einem Seiner Kinder etwas vorenthalten, was ihnen gehört, oder es in die Hand eines andern legen, damit dieser es als Almosen austeile? Petrus erklärte unumwunden, daß er „im Namen Jesu Christi von Nazareth” handelte; und das Wort „Namen” wird hier‚ wie so oft in der Heiligen Schrift‚ im Sinne von Charakter oder Wesen gebraucht.
Es würde in der Tat schwierig sein, den Trost und das Heil abzuschätzen, die für alle Menschen in der Überzeugung liegen, daß Gott einem einzelnen nicht etwas verliehen hat, das Er nicht gleicherweise allen verliehen hat. Hierin kann man das erreichbare Ziel erblicken, nach dem wir alle durch das Vollbringen ähnlicher Werke trachten können und müssen. Und die Notwendigkeit dieser Werke liegt immer vor. Denn sehen wir in diesem Befreiten nicht das Urbild der Menschheit? Zwar mögen wir nicht im buchstäblichen Sinne vor einer Tempeltür gelegen haben. Doch haben sich nicht viele von uns im Banne von etwas befunden, das uns dessen zu berauben schien, was zu haben ordnungsund rechtmäßig für uns gewesen wäre? Dieses scheinbare Etwas kann ein Gefühl körperlicher Unfähigkeit, Geldnot, häuslicher Unfriede oder sonst etwas aus der langen Reihe der Übel gewesen sein, die ihren gemeinsamen Ursprung in dem falschen Glauben an eine Trennung von Gott, dem Guten, haben. Es kann uns so lang gebunden haben, bis wir es schließlich als unser gemeinsames Los ansahen und uns darein ergaben, ohne etwas anderes zu erwarten. Es kann uns so blind gemacht haben, daß wir unsere Befreiung nicht erkennen konnten, als sie sich darbot, gerade wie im Falle des Hilflosen, als Petrus vor ihm stehen blieb.
Vielleicht ist dies sogar heute unsere Erfahrung. Ist dies der Fall, dann wollen wir uns freuen und wissen, daß keine Notwendigkeit dafür vorliegt, und daß auch wir, wie jener vor so langer Zeit, geheilt aus ihr heraustreten können. Ganz gleich, wie schlimm der Anschein auch sei, lasset uns jetzt Hoffnung schöpfen, da wir wissen, worauf wir unsere Hoffnung setzen. Dasselbe göttliche Prinzip, das Petrus verstand und an das er sich so erfolgreich wandte, ist noch gegenwärtig, immer tätig und immer anwendbar. Es wurde durch Mary Baker Eddy geoffenbart, und sie nannte diese Offenbarung die Christliche Wissenschaft. In ihren Schriften, und besonders im Lehrbuch dieser Wissenschaft, „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift”, hat sie klargemacht, wie diese befreiende Kraft Gottes gesucht, und, mehr als das, gefunden werden kann, um alles zu zerstören, was den Gaben eines all-weisen und all-liebenden Vaters unähnlich ist.
Die Christliche Wissenschaft erklärt den Entmutigten, daß es nicht im geringsten darauf ankommt, von wie langer Dauer der ungünstige Scheinzustand war, da eine Lüge zu jeder Zeit ihres Betrugs nicht mehr Substanz hat als bei ihrem Scheinanfang. Alles, was nötig ist, um in jedem Augenblick die Zerstörung jedes Irrtums zu vollbringen, ist, daß man die Wahrheit auf ihn anwendet, die er beansprucht, umgekehrt zu haben. Mrs. Eddy sagt: „Wahrheit ist immer der Sieger” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 380). Diese Erklärung enthält nichts, was die Befürchtung unterstützen würde, daß die Tätigkeit der Wahrheit durch die Zeitvorstellung gehindert werden könne.
Fassen wir daher Mut und beharren wir in der Erwartung, daß wir in den eigenen Erfahrungen jene zuversichtliche Erklärung unserer geliebten Führerin bestätigt sehen werden: „Bürger der Welt, nehmt die herrliche ‚Freiheit der Kinder Gottes‘ an und seid frei! Das ist euer göttliches Recht. Nicht das göttliche Gesetz, sondern die Illusion des materiellen Sinnes hat euch gebunden, eure freien Glieder umgarnt, eure Fähigkeiten gelähmt, euren Körper geschwächt und die Tafel eures Seins entstellt” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 227). Die Bejahungen und Verneinungen der göttlichen Wissenschaft bringen die Grundlagen der Freiheit mit sich; und der Gedanke, daß wir sie als unser Eigentum empfangen können, ist gewiß erhebend.
