In den Schriften der Mary Baker Eddy lesen wir wiederholt eine Äußerung, die, obgleich sie nur einen Teil ihrer Offenbarung an unser Zeitalter bildet, innerhalb zweier Menschenalter eine unberechenbare Änderung in der Menschheit hervorgerufen haben muß. Es ist ihre Wiederholung der auf die Kraft der Wahrheit gestützten Worte, daß das weltliche Leben buchstäblich ein Traum sei. „Das sterbliche Dasein ist ein Traum; das sterbliche Dasein hat keine wirkliche Wesenheit”, sagt sie auf Seite 250 in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift”. Durch dieses ganze erklärende Werk hindurch und in ihren sämtlichen anderen Schriften kommt jene Äußerung so häufig und in so wenig veränderter Form vor, daß der sorgfältige Leser sie als grundlegend erkennt und sie unmöglich übersehen kann, wenn er ihre Offenbarung begreifen und ihre umgestaltende Kraft anwenden will.
Oft erweitert Mrs. Eddy die Darlegung. Dabei vermeidet sie Verallgemeinerungen, gibt ihr aber eine solch bestimmte Ausdehnung und einen solch bestimmten Inbegriff, daß es jeden Leser, dem ein solcher Gedanke ungewohnt und neu ist, überraschen muß. „Das sterbliche Dasein ist ein Traum von Schmerz und Lust in der Materie, ein Traum von Sünde, Krankheit und Tod”, schreibt sie auf Seite 188 des soeben erwähnten Werkes; „es ist dem Traum gleich, den wir im Schlaf haben, in welchem ein jeder seinen Zustand ganz und gar als einen Zustand des Gemüts erkennt. Im wachen Traum, wie im Traum des Schlafs glaubt der Träumer, sein Körper sei materiell, und das Leiden sei in diesem Körper”.
Schmerz ein Traum! Krankheit ein Traum! Tod ein Traum! Sicher kann man sich kaum Worte denken, die mehr als diese mit der Kraft ausgestattet sind, die Hauptfesseln des menschlichen Lebens abzuschlagen. Nur ein Traum,— und das Gesicht voller Furcht hellt sich in ein Lächeln auf. Nur ein Traum,— und die Hoffnung, die wie eine erfrorene Lilie verwelkt ist, gewinnt wieder neues Leben, als wäre sie von nichts Gefährlicherem als einem Regentropfen getroffen worden. Ein Traum,— und Geduld richtet das Bewußtsein auf die Worte: „Alles geht gut” hin, während das Denken die Welt und das Leben wieder in Ordnung bringt, indem es die hohen Berge der Trübsal erniedrigt, die tiefen Täler der Verzweiflung erhöht und der Menschen Anschauung auf ein solches Dasein, wie es in jeder Quelle des Seins ersehnt und erbeten wird, wieder einstellt. Wann und wo immer die Betrübten die Bedeutung dieser Offenbarung erfaßten, war es nicht wundersam sondern göttlich natürlich, daß die Kranken der körperlichen Qual wie eines abgetragenen Gewandes entkleidet werden und die Sterbenden aufstehen und wandeln sollten. Die Furcht verlor ihre Kraft, wenn es verstanden wurde, daß der Träumer nur träumte.
Dem Traum, den wir im Schlafe haben, wird durch diese umwälzende Erklärung der Mrs. Eddy eine beträchtliche Untersuchung zuteil. Und ihrer göttlichen Eingebung getreu, hat die Untersuchung immer klarer gezeigt, daß der Traum im Schlafe demjenigen im wachen Zustande ähnlich ist. Es gibt Leidende, deren Schmerzen, die für sie wirklich genug sind, sie nur im Schlafe und gar nicht in den Stunden ihres sogenannten bewußten Zustandes bedrängen. In solchen Fällen ist die Christliche Wissenschaft angewandt worden, um Heilung zu bewirken, und häufig hat der Sieg über die Unwirklichkeit eines Traums im Schlafe eine wertvolle Lehre solchen Patienten gebracht, die glaubten, vollständig wach zu sein, während sie an etwas litten, das nicht wirklicher war als der Traum im Schlafe.
Ein Mädchen wuchs heran, ohne daß es anscheinend von einer Sinnestäuschung, die es von Kind auf beharrlich bedrängte, frei werden konnte. Es klagte, es werde im Traume von einer Herde wilder Pferde verfolgt. Unverändert schien es sich in der grasigen Mulde eines baumlosen Tales zu befinden. Wenn die zügellosen Rosse dröhnend in die Talmulde hereinstürmten, war nirgends ein freundlicher Baum oder Fels zu finden, hinter dem es hätte Zuflucht finden oder auch nur einen Augenblick stillstehen können, um Atem zu holen. Es konnte nur mit größter Geschwindigkeit fliehen, während die großen Pferde immer hinter ihm her galoppierten. Der als Wirklichkeit erscheinende Traum endete erst bei der Morgendämmerung, wenn die Schläferin so ermüdet und verstört erwachte, als hätte sie tatsächlich den langen, unsicheren Lauf gemacht, um den drohenden Hufen ihrer Verfolger zu entrinnen. Die Wahnvorstellung, die bei klarem Tageslicht sowohl für die Patientin als auch für den Praktiker aller Wirklichkeit entkleidet war, erwies sich unerklärlich hartnäckig. Ja, die Sinnestäuschung kehrte mit zunehmender Häufigkeit wieder und begann, die Gesundheit des Mädchens zugrunde zu richten.
„Wenn du wach bist”, erklärte schließlich der Praktiker, „kannst du klar erkennen, daß alles nur ein böser Traum ist. Wir müssen dir helfen, es ebenso klar zu erkennen, wenn du schläfst. Du mußt aufhören, vor den Pferden zu fliehen”. „Aber wenn ich nicht fliehe, überrennen sie mich!”, wandte das Mädchen ein. „Dann laß sie es tun”, war die bestimmte Antwort. „Du weißt jetzt, und du kannst selbst im Schlafe wissen, daß jene Pferde unwirklich sind”.
Ohne Überzeugung, doch fest entschlossen befolgte die Patientin die Ermahnung ihres Helfers. Als sie schlief, kamen die Pferde wieder, anscheinend so riesenhaft und schnell, daß die Erde bei ihrem geräuschvollen Heranrücken zitterte. In dem Augenblick, als sich die Schläferin rasch zur Flucht anzuschicken glaubte, erinnerte sie sich vollständig dessen, was sie zu tun versprochen hatte. Sie war erschreckt, doch sie blieb standhaft. Atemlos, wie es ihr schien, erwartete sie die Riesengestalten. In eine Staubwolke gehüllt stand sie einen Augenblick verwirrt da. Im nächsten Augenblick war sie vollständig in einen ganz neuen Anblick jener Pferde versunken. Sie sah den wehenden Schweifen der in der Ferne verschwindenden Herde nach. Sie erkannte, daß die galoppierenden Rosse über sie hinweggestürmt waren, ohne sie unter die Füße zu treten und ohne das geringste Zeichen jener gefürchteten Hufe zu hinterlassen. Und sie erwachte mit einem Dankesund Freudenschrei. Noch ein paarmal nachher sah sie jene sich bäumenden Pferde im Schlafe, doch sie bewegten sich nur um die Talmulde herum und wagten nicht, sich der furchtlosen Besucherin des Ortes zu nähern. Ein letzter Traum versetzte sie noch einmal in ihr kleines Tal, doch diesmal an einen Ort voller Blumen, wo man keinen zerstörenden Huf kannte.
„Nun frage ich”, schreibt Mrs. Eddy auf der zuerst erwähnten Seite: „Ist mehr Wirklichkeit in dem wachen Traum des sterblichen Daseins als in dem Traum des Schlafs? Das kann nicht sein, denn das, was ein sterblicher Mensch zu sein scheint, ist ein sterblicher Traum. Nimm das sterbliche Gemüt hinweg, und die Materie hat als Mensch nicht mehr Vernunft, wie als Baum. Aber der geistige, wirkliche Mensch ist unsterblich”. Der geistige, wirkliche Mensch — die geistige Wirklichkeit — tritt also an Stelle des Traummenschen und des Traums. Gerade da, wo der Irrtum am aufdringlichsten zu sein scheint, wird dem Bewußtsein, das geistig erleuchtet ist, die Wirkung der Wahrheit klar sichtbar. So bricht der Tag an. So schwinden die Gespenster der langen Nacht der Welt dahin, der Nacht, in der die Menschen ihre düsteren Begriffe der Wirklichkeiten nach dem Zeugnis der körperlichen Sinne gebildet haben.
Man kann zuverlässig berichten, daß sehr viele Menschen dankbar die Umwandlung bezeugen, die die Offenbarung der Mrs. Eddy und ihre eigene Erkenntnis der Tatsache, daß das sterbliche Dasein nur ein Traum ist, in ihrem Leben bewirkt hat. Sie sind zu einem Bewußtsein des Lebens erwacht, das dort, wo die dröhnenden Hufschläge der Sünde, der Krankheit und des Todes sie einst furchterregend aber betrügerisch mit Vernichtung bedrohten, den Frieden Gottes und das Sprießen leuchtender Blumen sieht.
