Die ganze Menschheit scheint dem Glauben an das, was Vergangenheit genannt wird, mehr oder weniger zum Opfer gefallen zu sein. Was wir heute zu sein scheinen, ist mehr oder weniger das Ergebnis dieses falschen Anspruchs; denn jedes menschliche Bewußtsein hegt den Glauben an menschliche Verwandtschaft mit ihren vermeintlich vererbten guten oder schlechten Neigungen, an eine glückliche oder unglückliche Kindheit, an eine gründliche oder oberflächliche Erziehung, an eine hilfreiche oder verderbliche häusliche Umgebung,— kurz, an alle Arten von emporhebenden und erniedrigenden Erfahrungen, die wir beständig zu machen scheinen und die beanspruchen, ihren unauslöschlichen Eindruck auf uns zurückzulassen. Wir scheinen sozusagen das zusammengesetzte Ergebnis dessen zu sein, was wir in der Vergangenheit waren, und wir werden es weiterhin sein, bis wir durch die gesegneten Lehren der Christlichen Wissenschaft verstehen lernen, daß „wir nun”, wie Johannes sagt, „Gottes Kinder sind”.
Es hat jemand treffend bemerkt: „Die Götter, denen wir dienen, schreiben ihren Namen auf unser Gesicht”. Das menschliche Gesicht wird nicht durch die Gemütsbewegungen eines einzigen Tages abgehärmt, runzelig und lieblos gestaltet. Diese Dinge sind das Ergebnis jahrelangen falschen Denkens. Sie sind der angehäufte Beweis alles dessen, was wir in der menschlichen Erfahrung, in den Zeiten durchgemacht haben, wo wir dem Irrtum Gehör schenkten, ohne uns gegen seine lügnerischen Begründungen einer von Gott getrennten Selbstheit zu wenden, und was wir in den Zeiten durchgemacht haben, wo wir das Sprachrohr des Irrtums waren, indem wir auch für ihn redeten und seinem falschen Augenschein Fortdauer verschafften. Auch ist das Gesicht nicht der einzige Ort, wo Besorgnis und Furcht, zu große Nachsicht, Groll, Eigenwillen und Stolz ihren Eindruck zurücklassen können. Ferner ist das Gesicht nicht der einzige Teil des Körpers, der in dem Maße, wie das menschliche Bewußtsein gewohnheitsmäßig eine bessere Art des Denkens pflegt, umgewandelt, veredelt, harmonisch und schön gestaltet wird, sondern der ganze sogenannte Körper fühlt die umwandelnde Berührung der Wahrheit und erwidert sie so natürlich und lieblich wie eine Äolsharfe die Berührung des sie treffenden Windes. Daß alles ein Vorgang des Denkens ist, also im Reich der Möglichkeit des Vollbringens liegt, ist in unserem Lehrbuch. „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” von Mary Baker Eddy (S. 208), mit folgenden Worten klar dargelegt: „Du umfaßt deinen Körper in deinem Denken, und du solltest auf ihm Gedanken der Gesundheit und nicht der Krankheit abbilden”.
Sollte im Hinblick auf dies alles nicht eine beharrlichere, planmäßigere Anstrengung gemacht werden, um aus unserem täglichen Denken alles auszumerzen, was auf gesundheit und Glück unverkennbar zerstörend wirkt? Doch in wunderlicher Umkehrung scheint sich das sogenannte menschliche Gemüt mit großer Zähigkeit gerade an die Dinge zu klammern, die es am dringlichsten aufgeben sollte, und eines dieser Dinge ist sein Glaube an die Vergangenheit. Das durchschnittliche menschliche Gemüt hat viel Ähnlichkeit mit einem Durchschnittslagerhaus, das voll ist von allerlei nutzlosen und abgelegten Dingen, die so abgetragen und veraltet und staubig sind, daß man schon lang auf sie hätte verzichten sollen. Doch wie fest klammern wir uns an sie, an diese Erinnerungen an die Vergangenheit, an diese Dinge, die wir alle im Bewußtsein aufgestapelt haben, an diese schweren, herzbrechenden und betrübenden Erfahrungen, die wir glauben, einst durchgemacht zu haben! Wie sorgfältig wir sie doch herausnehmen, sie abstäuben, sie schütteln, sie umdrehen, und wie zärtlich wir sie wieder einpacken, diese Dinge, die wir vergessen sollten! Wie gern wir doch tatsächlich bei ihnen zu verweilen, sie lebendig zu erhalten, anderen Leuten ihre Geschichte zu wiederholen, uns ihretwegen zu bedauern scheinen! Und wie teuer wir doch das Vorrecht, sie zu behalten, bezahlen! Dreizehn Jahre lang zahlte einst jemand jährlich vierhundertzwanzig Dollar für das Aufbewahren alter Möbel im Lagerhaus. Doch dies sinkt im Vergleich mit dem Preis, den wir manchmal für das Lebendigerhalten unangenehmer Erinnerungen bezahlen, zur Bedeutungslosigkeit herab.
Machte uns in der Vergangenheit jemand unglücklich, fügte uns jemand etwas zu, was nicht recht war, etwas Ungerechtes, etwas Unfreundliches, vielleicht etwas unsagbar Grausames? Dies ist durchaus möglich; denn dergleichen widerfährt uns allen. Doch warum immer darauf zurückblicken? Es ist vorüber; und mögen wir es auch noch so sehnsüchtig betrachten, so läßt sich doch jetzt kein Jota mehr daran ändern. Wir alle wissen, was Lots Weib widerfuhr, als sie zurückblickte. Sie wurde zur Salzsäule, mit andern Worten, ihre Freude starb, ihr Glauben starb, ihre Dankbarkeit starb, ihre Hoffnung starb, und sie wurde kalt, bitter, lieblos und versteinert. Versetzt die Gewohnheit betrübten und sehnsüchtigen Zurückblickens auf etwas Vergangenes, was nicht zurückgerufen und nicht mehr geändert werden kann, nicht gerade der Quelle der Tätigkeit und dem Fortschritt selbst den Todesstoß? Unser Meister war nicht herzlos sondern göttlich weise, als er sagte: „Laß die Toten ihre Toten begraben!” Wir haben in der Christlichen Wissenschaft den köstlicheren Weg gefunden, den uns Mrs. Eddy in Wissenschaft und Gesundheit (S. 324) mit folgenden Worten weist: „Die Freudigkeit, die falschen Marksteine zu verlassen, und die Freude, sie verschwinden zu sehen,— eine solche Gesinnung beschleunigt die endgültige Harmonie”.
Wir finden, wie einer unserer geliebten Dichter sagte,
„Daß alles Gute, das wir genossen,
Bleibt, um uns heute zu beglücken”,
und daß alles Schlechte, das die Vergangenheit bot, nie wahr, nie wirklich war, weil Gott es nie gemacht hat. Warum sollten wir es also noch weiterhin wie ein schrecklicher Alp auf uns lasten lassen? Denn es war nie etwas anderes, selbst nicht zu der Zeit, als wir die Erfahrung zu machen glaubten,— es war immer nur ein böser Traum unserer wachen Augenblicke, dem nie wirklicher Gehalt, wirkliches Leben, wirkliche Tätigkeit, Wahrheit, Kraft, Gegenwart und Dauer innewohnte.
Laßt uns als Christliche Wissenschafter, die beanspruchen, Gott und Seine unendliche Allheit zu lieben und zu ehren, aufhören, Ihn zu entehren! Laßt uns uns weigern, Seinen heiligen Namen und Sein heiliges Wesen dadurch zu entehren, daß wir einen andern Schöpfer und eine andere Schöpfung anerkennen! Laßt uns sofort beginnen, eine Linie unbedingter Trennung zwischen dem immer Falschen und dem ewig Wahren dadurch zu ziehen, daß wir uns hinsichtlich jeder Erfahrung in dieser sogenannten Vergangenheit fragen: Hat Gott sie geschaffen? Diese Frage wird in jedem Falle rasch und vollständig beantwortet, wenn wir den Prüfstein folgender geistig eingegebenen Erklärung in Wissenschaft und Gesundheit (S. 525) auf sie anwenden: „Alles Gute oder Wertvolle hat Gott gemacht. Alles Wertlose oder Schädliche hat Er nicht gemacht — daher dessen Unwirklichkeit”. Nach einem Wörterbuch bedeutet das Wort „schädlich”: „Schaden bringend; nachteilig; verderblich; etwas, das Unheil oder Zerstörung bewirkt”. Beachten wir also dieses Wort, und fragen wir uns im Hinblick auf jede vergangene Erfahrung, ob alle diese Bedeutungen oder einige davon auf sie angewandt werden können, und ob sie außerdem wertlos oder von keiner wirklichen Bedeutung, inhaltslos, unnötig, überflüssig, nutzlos ist; und wenn dem so ist, wissen wir über den geringsten Zweifel hinaus, daß Gott sie nicht gemacht hat, daß sie also nicht gemacht wurde und in Wirklichkeit nie bestanden hat oder geschehen ist.
Laßt uns nun im Lichte dieser ganzen Betrachtung alle jene verborgenen Dinge aus ihrem dunklen Winkel in dem Lagerhaus unseres Denkens hervorbringen und gerade hier und jetzt ein Ende mit ihnen machen! Bringen wir sie alle ohne einen einzigen Rückhalt hervor, sogar gerade jene schwerste Erfahrung unseres Lebens, gerade das Schlimmste, das uns je zu widerfahren schien, dessen Erinnerung vielleicht unser ganzes Leben umgestaltet und verdunkelt hat,— oder was wir wenigstens bis jetzt glaubten. Bringen wir jede von ihnen hervor: jenen schweren Fehler, den wir vor langer Zeit gemacht haben, jenen falschen Entschluß in einem entscheidenden Augenblick, jenen unter dem Druck der Versuchung rückwärts gemachten Schritt, jene Lieblosigkeit, die jemand beging, und die wir anscheinend nicht vergessen können, jene Ungerechtigkeit, deren unschuldiges Opfer wir waren, jenes Mißverständnis, das Freunde entzweite, jene Enttäuschung, die unseres Lebens Sonnenschein verfinsterte, jene Stunde, als Isaak auf den Altar gelegt wurde, jenes Ringen in sternenloser Mitternacht. Man sollte aber ja nicht glauben, daß man diese Dinge wie im Handumdrehen ganz vergessen könne. Bei unserem gegenwärtigen Zustande schwachen geistigen Fortschritts wäre dies fast unmöglich. Doch wir können heute und, wenn wir wollen, auf immer, ihren Stachel, ihre Grausamkeit vernichten, so daß wir uns nachher nur der Lehren, der Gelegenheiten erinnern, die sich uns boten, weil wir gezwungen wurden, uns völliger und rückhaltloser an Gott zu wenden.
Laßt uns in liebevollem Gehorsam gegen die göttliche Forderung uns ruhig und leidenschaftslos vergegenwärtigen, daß das, was unsere menschliche Geschichte, ihre Trübsale und Niederlagen, ihre Fehler und Mißerfolge, ihre Enttäuschungen und bitteren Ernüchterungen, ihre verlorenen Gelegenheiten, ihre Seufzer und Gewissensbisse genannt wird, in dem Maße aus unserem Denken entfernt werden kann, wie wir unsere Gedanken über das alles in der freudigen Verwirklichung dessen erheben, daß wir schließlich befreit werden sollen! Gott hat diese schädlichen und wertlosen Dinge nie gemacht, und wir brauchen ihre Last und ihre Schmerzen keine weitere Stunde zu tragen. Der Irrtum hat keine Geschichte — keinen Anfang und kein Ende —; denn in Wirklichkeit hat es nie einen Irrtum gegeben.
Laßt uns, wenn wir über diese Dinge nachdenken, uns vorstellen, wir ständen auf dem Deck eines riesigen Ozeandampfers, der sich gerade vor der Abfahrt befindet. Alles, was wir tatsächlich brauchen, um uns die Reise zu erleichtern, haben wir bei uns auf dem Schiff; und alles, was unsern Fortschritt nur hindern und verzögern würde, haben wir auf der Werft zurückgelassen und auf einen Haufen gelegt. Halb erstaunt sehen wir es an und wundern uns, daß wir dieses ganze nutzlose Gepäck so lang ohne Murren mit uns herumtragen konnten. Was für ein buntes Durcheinander es doch alles ist, was für ein unschöner, elender hoffnungsloser Wirrwarr angehäuften Augenscheins, etwas, das durchaus falsch und unnötig ist! Scheint es möglich, nachdem wir es nun tatsächlich im Tageslicht betrachten, daß wir so getäuscht und betrogen werden konnten, daß wir es alle diese mühsamen Jahre hindurch, wohin wir auch gingen, beständig mit uns schleppten?
Doch siehe, das Schiff bewegt sich! Schweigend stehen wir de und beobachten, wie das Land zurückweicht. Immer mehr verblassen die Umrisse der Vergangenheit, jene falschen Marksteine, die nie etwas Wahres oder Wirkliches bezeichneten, bis sie schließlich alle dahinschmelzen und nur noch die offene See, der wolkenlose Himmel und die frischen, kräftigen Winde, die unsere Fahrt beschleunigen, übrig bleiben. Dann tun wir mit einer Dankbarkeit im Herzen, die zu groß ist, als daß sie mit Worten ausgedrückt werden könnte, einen tiefen Atemzug der Erleichterung, und mit Freude und Fröhlichkeit wenden wir uns für immer von jenem armseligen Häuflein zurückgelassenen Plunders ab. In dieser Weise helfen wir „die endgültige Harmonie beschleunigen”.
