Wie selten ist es wohl schon für möglich gehalten worden, daß das Ergebnis der Demut Macht sein kann! Weil die Menschen erzogen worden sind, zu glauben, Demut bedeute im allgemeinen, daß man die eigenen Meinungen, Absichten und Wünsche jemand mit einem sogenannten stärkeren Bewußtsein unterordnen müsse, so hat der gewöhnliche Begriff von Demut oft eher den Sinn der Schwäche als den der Stärke in sich geschlossen. Dies hat zu der Annahme geführt, man müsse, um demütig zu sein, sich sehr viel gefallen lassen,—müsse bereit sein, jeder Forderung, von wem und in welcher Weise sie auch an einen gerichtet sei, schnell und ohne Widerrede nachzukommen. Dies würde einen häufig in Demütigung oder Erniedrigung anstatt in den Genuß der frohen Wirkung wahrer Demut führen, die, wenn recht verstanden, immer als himmlische Tugend erkannt wird.
Glaubt man also, man müsse unterwürfig sein, ohne zu verstehen, wozu man sich unterwerfen soll, so setzt man sich allerlei gefährlichen Möglichkeiten aus. Doch die Christliche Wissenschaft gründet alles auf Gott, das göttliche Gemüt, und bietet die Demut im wahren Lichte dar. In erster Linie zeigt sie klar, daß man immer nur Gott gegenüber unterwürfig sein soll. Das göttliche Gemüt allein fordert des Menschen ganze Treue, und die wahre Demut, die immer im Gehorsam gegen das Gemüt handelt, erhebt das Denken über den persönlichen Sinn, bis die falschen Ansprüche von Persönlichkeit aufgegeben sind. Dann kann das göttliche Gemüt im menschlichen Bewußtsein regieren.
Wahre Demut muß daher die Fähigkeit sein, menschliche, materielle Begriffe—sterbliche Gedanken—aufzugeben, damit die Ideen des göttlichen Gemüts herrschen können. Jede persönliche Meinung, jeder persönliche Vorsatz, jeder persönliche Wunsch muß sich den heiligen Wahrheiten des vollkommenen Gemüts unterordnen. Die Bereitwilligkeit, die Falschheit des materiellen, körperlichen Sinnes und seines Augenscheins zuzugeben, muß vorhanden sein, damit die Herrlichkeiten des einen unendlichen Gemüts unser Denken ganz einnehmen können und das Wesen unseres guten Gottes offenbar gemacht werde. Eine solche Demut kommt unvermeidlich in der Macht des widergespiegelten geistig Guten zum Ausdruck. In dem Maße, wie wir die wertlosen, unvollkommenen, falschen Annahmen eines Gemüts in der Materie aufgeben, treten die Erhabenheit und die Kraft der unüberwindlichen Vollkommenheiten Gottes in Erscheinung. In dem Maße, wie die Annahmen, die beanspruchen, eine materielle Selbstheit zu bilden, geleugnet und zurückgewiesen—aus dem Bewußtsein ausgeschlossen—werden, müssen die herrlichen Wirklichkeiten einer Selbstheit in Gott unbedingt zum Vorschein kommen.
Rein verstandesmäßig erkennen wir wohl diese Wahrheit über die Demut; doch sie beständig durch Beweis in die Tat umsetzen, scheint oft etwas ganz anderes zu sein. Einer der ersten Schritte muß hierbei darin bestehen, daß man die Tatsache annimmt, die Mrs. Eddy in „Miscellaneous Writings” (S. 356) mit folgenden Worten zum Ausdruck bringt: „Man kann erst erhöht werden, wenn man sich in der eigenen Achtung erniedrigt hat”. Die vollständige Verkehrtheit des Glaubens an ein von Gott getrenntes Gemüt und Dasein muß erkannt werden, ehe er aufgegeben werden kann. In dieser Erkenntnis und vor dem Aufgeben tritt häufig ein sehr bitteres Gefühl der vollständigen Wertlosigkeit der Annahmen über uns selber als Sterbliche ein.
Wir brauchen nie zu fürchten, daß Demut irrt, wenn sie uns im Lichte der Wahrheit über Gott und den Menschen, die die Christliche Wissenschaft lehrt, veranlaßt, über unser sterbliches Selbst mit den Worten Hiobs zu sagen: „Ich hatte von dir [Gott] mit den Ohren gehört; aber nun hat mein Auge dich gesehen. Darum spreche ich mich schuldig und tue Buße in Staub und Asche”. Nur wenn die geliebte Wissenschaft die Wunder und Schönheiten eines Lebens in Christus, der Wahrheit, veranschaulicht, kann uns die Verwerflichkeit einer falschen Selbstheit aufgedeckt werden. Als Sterbliche lernen wir dann die Roheiten, die Ungeheuerlichkeiten, die Irrtümer der Materialität so verabscheuen, daß wir verstehen, wie wir uns in der eigenen Achtung erniedrigen können. Nur so verstehen wir, wie wir aufhören können, menschlichen Glauben irgend welcher Art zu achten und zu ehren.
Diese richtige Erkenntnis, daß jeder nicht von Gott, dem göttlichen Gemüt, ausgehende und nicht von Ihm erhaltene Gedanke oder Gegenstand nicht wünschenswert ist, enthüllt schnell die Wahrheit, daß alles Böse ohne Wirklichkeit und Kraft ist. In dieser Weise wird der Allmächtigkeit des Guten die Tür geöffnet, und die unüberwindliche Macht wahrer Demut kann und wird gerade in dem Maße hervorströmen, wie die Unwahrheiten selbstischer menschlicher Annahmen aufgegeben werden.
Unzählige Gelegenheiten bieten sich in der Erfahrung jedes Christlichen Wissenschafters, wodurch er diese Macht der Demut beweisen kann,—die Macht, die man dadurch erlangt, daß man etwas von der Freude am Unterwerfen des persönlichen Sinnes unter die im allgegenwärtigen, allmächtigen göttlichen Sein enthaltenen großen und herrlichen Tatsachen versteht. Jeden Augenblick können, je müssen wir uns durch die Demut, die es ablehnt, eine von Gott, dem göttlichen Gemüt, getrennte Selbstheit zuzugeben, weigern, irgend einen Gedanken oder Begriff von etwas, was nicht aus dem Gemüt hervorgeht, zu beherbergen.
Da der wirkliche Mensch nur das widerspiegelt, was Gott weiß, so hat er stets diese Demut, die die Macht Gottes ausdrückt. Es sollte also nicht schwierig sein, sich von den anmaßenden Ansprüchen menschlichen Glaubens abzuwenden. Indem wir in den Wirklichkeiten des göttlichen Gemüts bleiben, über die Ideen Gottes, des Guten, nachdenken, werden wir in stets zunehmendem Maße fähig sein, zu erkennen, daß die Demut, die nur Gott und Seine Ideen anerkennt, unfehlbar ihre Macht beweisen muß. In der Tat beweist man auf diese Art, daß man selber gerade der Ausdruck jener Macht ist.
Wir sollten daher immer verstehen, daß wir jede persönliche Meinung in die Hand Gottes legen können, da wir ganz genau wissen, daß alles, was gut in ihr ist, trotz aller ihr widerfahrenen Stöße, unverändert bestehen bleibt, und alles, was nicht wahr in ihr ist, zu unserer Freude verschwinden wird.
Machen wir uns doch nur ein Bild von dem Glück, das die Folge wäre, wenn sich alle Menschen der Vollkommenheit und Unendlichkeit Gottes, des göttlichen Gemüts, so sicher wären, daß jeder einzelne die Demut, die Macht ist, beweisen würde! Stellen wir uns doch einmal den Frieden und die Harmonie vor, die unter den Menschen vorherrschen werden, wenn jeder einzelne auch nur versucht zu beweisen, daß Gott und Seine Gedanken allein wirklich sind! Dann wird niemand mehr glauben, er müsse sich an seine Meinung klammern, vielleicht sogar seine persönliche Ansicht über etwas verfechten; im Gegenteil, alle werden in der Demut bleiben, die Gott widerspiegelt, und so die Macht, die über alles Böse erhaben regiert, beweisen!
