Jeder, der sich für die Christliche Wissenschaft interessiert, muß sich mit der Versorgungsfrage befassen. Die Reichen, die Armen und alle anderen, die sich anscheinend zwischen diesen äußersten Grenzen befinden, müssen ein rechtes Verständnis dieser Sache gewinnen. Die Versorgungsfrage gestaltet sich für jeden besonders; denn die Sterblichen unterscheiden sich in mancher Hinsicht voneinander. Indem sich Mrs. Eddy in „Miscellaneous Writings” (S. 224) auf diese Unterschiede bezieht, sagt sie: „Jede Person unterscheidet sich von allen anderen durch ihre Lebensgeschichte, ihre Körperbeschaffenheit, ihre Erziehung, ihren Charakter”. Diese und unzählige andere seelische Eigenschaften sind bei der Versorgungsfrage in Betracht zu ziehen. Es kann daher keinen feststehenden menschlichen Maßstab dafür geben. Wer im Glauben an die Wirklichkeit der Armut auferzogen worden ist, kann durch schwere Arbeit und gewissenhafte Pflichterfüllung ein Einkommen verdienen, das ihm mehr als genügend erscheint, um die seinem gewohnten Maßstabe entsprechenden Bedürfnisse zu befriedigen, während derselbe Betrag einem andern als Armut, dem Reichen sogar als nicht einmal der Beachtung wert erscheinen kann.
Es kann sich die Frage erheben: Was ist Versorgung? Im allgemeinen wird Geld als Versorgung angesehen oder wenigstens für das Mittel gehalten, wodurch man seinen Bedarf an notwendigen Dingen und an Luxusgegenständen decken kann. Sorgfältiges Nachdenken enthüllt die Tatsache, daß Geld und dessen Besitz nicht der offene Sesam für wünschenswerte und wesentliche seelische Eigenschaften sind. Was kann es Wünschenswerteres geben als Heiligkeit! Heiligkeit kann aber nicht mit Geld gekauft werden. Petrus rügte aufs nachdrücklichste den Gesinnungszustand eines gewissen Simon, der glaubte, die Fähigkeit, die Kranken zu heilen, die nur das Ergebnis gerechten Denkens ist, könne mit Geld gekauft werden. Er sagte zu Simon: „Daß du verdammt werdest mit deinem Gelde, darum daß du meinst, Gottes Gabe werde durch Geld erlangt! Du wirst weder Teil noch Anfall haben an diesem Wort; denn dein Herz ist nicht rechtschaffen vor Gott”. Der Besitz von Geld an sich ist kein Hilfsmittel zur Erlangung der Fähigkeit, die Kranken zu heilen. Denn nur Rechtschaffenheit, ein richtiges Verständnis des Wesens Gottes und Seiner Schöpfung, kann sich in der Zerstörung von Sünde und Leiden und in der Überwindung alles dessen, was Gott unähnlich ist, kundtun.
Dem Armen kommt Begrenzung als etwas Ungeheures vor. Er glaubt, es gebe von allem nicht genug, es sei nicht genug Reichtum in der Welt vorhanden, daß alle daran teilnehmen können, und was es gebe, sei auf irgend eine Art und Weise ungerecht verteilt, und er hält sich wohl für einen der Benachteiligten. Da er glaubt, Substanz und Versorgung seien materiell, ist sein Ausblick begrenzt. Er sagt sich, seine Arbeit sei seine hauptsächliche, wenn nicht gar seine einzige Versorgungsquelle, er könne nur eine gewisse Lohnoder Gehaltsumme erwarten, und selbst diese Summe könne sich von Zeit zu Zeit ändern, da sie von Umständen beeinflußt werde, über die weder er noch sonst jemand Gewalt habe.
Solange das Denken auf Materialität gerichtet ist, ist eine Heilung dieses Zustandes unmöglich. Was für eine freudige Botschaft daher die Christliche Wissenschaft doch bringt! Früher oder später muß in jedem Bewußtsein die Wahrheit dämmern, daß Gott die einzige Quelle der Versorgung mit allem ist, dessen die Menschen bedürfen. Die Erklärung des Vaters an den verlorenen Sohn: „Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein”, beginnt eine neue Bedeutung anzunehmen. Während er früher glaubte, er sei von der Teilnahme an dem Guten, das Gott für diejenigen, die Ihn lieben, vorgesehen hat, ausgeschlossen, oder während ihm die Erkenntnis des Reichtums Gottes vollständig verschlossen blieb, beginnt er jetzt, Gott richtiger zu betrachten und sich selbst in anderem Lichte zu sehen. Seine Heilung hat begonnen. Er beginnt einzusehen, daß nicht Gott sich zu ändern braucht, sondern daß sein Denken über Gott und seine Beziehung zu Ihm nicht richtig gewesen ist, und daß dies die unharmonischen Ergebnisse hervorgerufen hat. Er beginnt weniger seine Beschäftigung, dagegen mehr Gott als seine Versorgungsquelle anzusehen. Seine Beschränkungen werden nach und nach kleiner, seine Geldsorgen verschwinden, und die quälende Furcht, Versorgung könne aufhören, wird als machtlos bewiesen.
Vielleicht hat er sich der Christlichen Wissenschaft in dem Gefühl zugewandt, er habe vom weltlichen Standpunkte aus ohnehin wenig zu verlieren; daher war er bereit, einen Einblick in diese neue Lehre zu tun, um zu sehen, ob sie eine Hoffnung auf Besserung biete. Von dem Augenblick an, wo er eine Erklärung über die Christliche Wissenschaft andächtig las oder seine erste Unterhaltung über ihre Lehre hatte, begann seine Erlösung vom Irrtum. Denn jede gelesene oder gehörte Wahrheitserklärung übt eine gewisse heilende Wirkung aus. Es ist nur eine Frage der Aufrichtigkeit, der Einfalt des Zwecks und der Hingebung, die die Schnelligkeit seines Fortschritts im Verlassen der früheren Annahmen bestimmt.
Die Aufgabe dessen, der seiner Annahme nach reich ist, unterscheidet sich in mancher Hinsicht von der des Armen. Seinen Reichtum verdankt er vielleicht anderen. Er kann einer Familie angehören, die mehrere Menschenalter hindurch ein großes und einträgliches Geschäft betrieben hat. Vom menschlichen Standpunkte aus sind alle seine Bedürfnisse immer befriedigt worden. Er hat sich wohl nie um den Preis von etwas zu kümmern brauchen, und vielleicht glaubt er, daß für seine Zukunft gut gesorgt sei. Auch hegt er wohl den bestimmten Glauben, Geld sei Substanz und Macht, und mit Geld könne er sich sozusagen alles verschaffen, was er begehre. Er kann von jener Gesinnung erfüllt sein, an die sich der geliebte Jünger mit den Worten wandte: „Du sprichst: Ich bin reich und habe gar satt und bedarf nichts! und weißt nicht, daß du bist elend und jämmerlich, arm, blind und bloß. Ich rate dir, daß du Gold von mir kaufest, das mit Feuer durchläutert ist, daß du reich werdest, und weiße Kleider, daß du dich antust und nicht offenbart werde die Schande deiner Blöße; und salbe deine Augen mit Augensalbe, daß du sehen mögest”.
Ein solcher muß erkennen lernen, daß materieller Reichtum an sich überhaupt kein Reichtum, sondern nur der Ausdruck anhäufender Annahmen ist, die die geistigen Tatsachen verbergen. Christus Jesus erklärte, der Glaube an materiellen Reichtum mache es dem, der diesen Glauben hege, schwer, ins Himmelreich zu kommen. Er sagte vom reichen Jüngling: „Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen! ... wie schwer ist’s, daß die, so ihr Vertrauen auf Reichtum setzen, ins Reich Gottes kommen! Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme”.
Jesus zeigte klar, daß nicht der Besitz materiellen Reichtums an sich die Aufgabe schwierig mache, sondern das in ihn gesetzte Vertrauen. In seinem Briefe an Timotheus klagte Paulus nicht das Geld an, sondern „die Liebe zum Geld” (engl. Bibel), die, wie er sagte, die „Wurzel alles Übels” sei. Die dem Besitze des Geldes beigemessene Kraft macht es dem Reichen schwer, ins Reich Gottes zu kommen. Wir können uns nicht gleichzeitig auf die Materialität und auf die Geistigkeit verlassen. Man ist zwar versucht, sich auf beides zu verlassen; aber ein geteiltes Vertrauen ist überhaupt kein Vertrauen. Solange man an die Macht des Geldes glaubt, schließt man sich der Annahme nach von der Kraft Gottes aus. Der Reiche, der glaubt, er habe alles, was ihm not tut, hat sich selbst in einen Zustand des Glaubens an materielle Selbstvollkommenheit hineinmesmerisiert. Dieser Glaube wird durch den ordnungsmäßigen Erlösungsvorgang zerstört. Der Reiche muß verstehen lernen, daß Gott, der Geist, das All ist, und daß der Mensch, die Schöpfung und die Substanz geistig und unzerstörbar sind. Er muß verstehen lernen, daß sein materiell befriedigtes Bewußtsein im Vergleich mit den Tatsachen des Seins ein erbärmlicher und elender Zustand ist, ein Zustand der Armut; denn wahrer Reichtum ist geistig. Es ist ein Zustand der Blindheit; denn es ermangelt der geistigen Wahrnehmung. Es ist ein Zustand der Nacktheit; denn es fehlen ihm die Kleider der Gerechtigkeit.
Wenn man sich mit der Versorgungsfrage befaßt, muß man gewisse Schritte im Denken tun. Eine sorgfältige Prüfung unseres Vorgehens beim Behandeln dieser Frage mag wohl den Grund enthüllen, warum unsere geistige Arbeit nicht so schnelle und befriedigende Ergebnisse wie bei gewissen anderen Fragen zeitigt. Jeder Beweis gründet sich auf die Anerkennung der Allheit Gottes, Seiner Vollkommenheit und der Vollkommenheit Seiner Schöpfung, einschließlich des Menschen. Die „Basis des Gedankens und der Demonstration” [des Beweises] ist, wie Mrs. Eddy auf Seite 259 in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” erklärt, „ein vollkommener Gott und ein vollkommener Mensch”.
Nehmen wir an, jemand möchte die Versorgungsfrage im Sinne der Christlichen Wissenschaft ausarbeiten. Sein erster Schritt ist wohl die Erkenntnis, daß Gott die eine und alleinige Versorgungsquelle ist, und daß Versorgung unendlich ist (wir müssen achtgeben, daß wir Versorgung und Geld nicht für sinnverwandte Ausdrücke halten). Glaubt er indessen noch an die Wirklichkeit seines Mangelgefühls, so ist wohl sein nächstes Bemühen der irrige Versuch, die unendliche Verforgung in den Kanal zu leiten, von dem er glaubt, durch ihn werde sein Bedürfnis befriedigt. Im wesentlichen ist er dann, soweit es ihn selbst betrifft, bestrebt, die Unendlichkeit endlich zu machen. Dies wird ihm ober nie gelingen. Die Wirkung eines solch falschen Denkens über seine Angelegenheiten ist begrenzend. Versorgung geht nicht von Gott auf den Menschen über; sie ist allgegenwärtig und daher unendlich und augenblicklich erreichbar. Dies trifft nicht auf ein sogenanntes Geldbedürfnis allein zu, sondern überhaupt auf alles. Versorgung kommt nicht zum Menschen, sie ist dort, wo der Mensch sich befindet. Es gibt keine Trennung zwischen Gott und dem Menschen, daher gibt es keine Trennung zwischen dem Menschen und notwendiger Versorgung. Keine göttliche Idee befindet sich an einem Ort und ist daher begrenzt; jede geistige Idee muß überall sein und ist überall. Daher braucht das Gute, die Substanz oder die Versorgung, nicht von einem Ort an einen andern gebracht zu werden. Er muß also seinen Bemühungen, dies zu tun, ein Ende machen.
Wir verstehen den Reichtum des Guten nicht richtig, wenn wir z. B. mit genug Geld gesegnet sind, aber gleichzeitig an Mangel an Gesundheit und Glück glauben. Wir können nicht in einer Richtung allein begrenzen. Begrenzung ist ein falscher Gesinnungszustand, der geneigt ist, in der menschlichen Erfahrung dessen, der ihn beherbergt, alles ungünstig zu beeinflussen, Es ist wichtig zu erkennen, daß wir keinerlei Begrenzungsannahmen für andere Menschen zugeben und gleichzeitig Befreiung von der Wirkung dieser Annahmen für uns selbst beanspruchen können.
Außer der Erkenntnis, daß Versorgung unendlich, überall, ist, ist ein wesentlicher Punkt das Erkennen und Bekräftigen der Tatsache, daß jedes Kind Gottes sie durch Widerspiegelung in unendlichen Maße hat. Das frühere Verfahren, sich mit dieser Frage zu befassen, ist mehr oder weniger selbstisch, da es sich nur um das persönliche Bedürfnis kümmert, während das soeben erwähnte Verfahren selbstlos ist, da es alle Menschen einschließt. Diese Erkenntnis durch den einzelnen hat zur Folge, daß sich ihm Wege öffnen, die das Denken früher verschlossen hatte. Der endliche Sinn von unendlicher Versorgung verschwindet dann, die endliche Annahme hört auf zu hindern, und gerade die Gegenwart alles Guten wird erkannt und beherbergt, da jeder Weg frei und offen ist.
In „Miscellaneous Writings” (S. 307) schreibt unsere Führerin: „Gott gibt dir Seine geistigen Ideen, und diese wiederum geben dir, was du täglich brauchst”. Gott gibt nicht das einemal und hält ein andermal zurück,—Er gibt und gibt und gibt immerdar, Er gießt den unendlichen Reichtum alles Guten aus, und das Dasein des Menschen, jedes Menschen, beruht auf der Fähigkeit des Empfangens. Was also noch übrig bleibt, um im Denken und in der Erfahrung des einzelnen das Bewußtsein der unendlichen Versorgung zu vollenden, ist der wissenschaftliche Sinn von Dankbarkeit, der dadurch zum Ausdruck kommt, daß man Gott dankt, daß der Mensch trotz jedes gegenteiligen materiellen Sinnenzeugnisses gerade hier, gerade jetzt, alles Gute widerspiegelt und zu eigen hat.
