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Die zweite Meile

Aus der November 1928-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Als Christus Jesus die im 5. Kapitel des Evangeliums des Matthäus berichteten Worte sprach: „Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern, so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar. Und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel. Und so dich jemand nötigt eine Meile so gehe mit ihm zwei”, stieß er mit einigen kurzen Sätzen das zu jener Zeit allgemein geübte gesamte Gesetz religiöser und geschäftlicher Sittenlehre um. Das mosaische Gesetz: „Auge um Auge, Zahn um Zahn” war bis dahin als Richtmaß für rechtschaffene Lebensführung anerkannt worden. Jeder behauptete seine eigenen Rechte und räumte dieselben Rechte seinem Nächsten ein, aber weiter nichts. Hatte jeder das getan, so hatte er, wenigstens seiner Ansicht nach, das Gesetz erfüllt.

Dies alles wurde jedoch durch die neue Ordnung, durch die erstaunliche Forderung, daß man mehr tun solle, als gesetzlich von einem verlangt wird, in vernichtender Weise aufgehoben. „So dich jemand nötigt eine Meile, so gehe mit ihm zwei”. Dies genügte, um selbst einen gottesfürchtigen Mann jener Zeit zum Nachdenken zu veranlassen, wie es auch heute unwillkürlichen Einspruch beim menschlichen Gemüt hervorruft, indem es für zu selbstlos — für zu unzweckmäßig und undurchführbar — gehalten wird.

Christus Jesus aber gab nie ein Gebot, das nicht gehalten werden konnte, was er dadurch bewies, daß er lebte, was er lehrte. Er war dazu berufen, den „köstlicheren Weg”. dessen Grundton die Liebe ist, zu zeigen, und seine Wirksamkeit zu beweisen. Nicht allein, was das Gesetz forderte, sondern was die Liebe eingab; nicht die bloße Erfüllung einer gerechten Verpflichtung, sondern darüber hinaus die Höflichkeit der Freundlichkeit, an sich vielleicht klein, aber groß, weil ihr Antrieb Liebe ist; jenes Etwas, wovon Robert Browning zweifellos einen Schimmer erhascht haben muß, als er schrieb:

„O gib ein wenig mehr, und sieh, wieviel es ist!
Und etwas weniger, und wie weit entfernt!”

Nur diejenigen, die durch das Verständnis der Christlichen Wissenschaft die zweite Meile gehen lernen, wissen, was für ein lieblicher Weg sie ist. Die Meile, die man ging, weil man dazu gezwungen war, ist vergleichsweise lang; denn Liebe leiht den Füßen Schwingen. Sicherlich wuchsen am Wege jener ersten Meile keine solchen Blumen, auch war die Luft nicht so kräftigend! Die Freude, zu behalten, indem man aufgibt, zu halten, indem man fahren läßt, zu empfangen, indem man gibt, genügt schon an sich, jeden Weg kurz erscheinen und die Wüste wie die Rose erblühen zu lassen.

Das menschliche Gemüt ist von Natur geneigt, darauf zu bestehen, was es als sein Recht betrachtet, mit der Begründung: Dies ist mein Recht, deshalb werde ich es tun; ich habe das Recht, diesen Weg zu gehen, deshalb werde ich ihn gehen! Ach, es gibt aber etwas Höheres als dieses Abschätzen unserer Rechte, und das ist unser Vorrecht, um des Himmelreichs willen etwas aufzugeben, was unser Recht zu sein scheint, auch den Mantel hinzugeben, wenn uns der Rock genommen worden ist — das unschätzbare Vorrecht, die zweite Meile zu gehen.

Gerade hier, am Übergang von der ersten Meile zur zweiten, flüstert einem das sogenannte fleischliche Gemüt schnell einen Verlust ein und sagt: Bedenke doch, was es dir kosten wird, wenn du diesen Weg einschlägst; ermiß die Erschöpfung deines Geldvorrats, die es zur Folge haben kann; überlege ja gründlich die Schwierigkeiten, auf die du stoßen könntest; kurzum, sieh das Ganze so an, wie die Welt es ansehen würde, als Tatsache, daß es etwas sein kann, was man ein „schlechtes Geschäft” nennt, und vor allem, daß du zu nichts verpflichtet bist,— daß du nicht gezwungen bist, es zu tun. Nein, du bist es nicht, es sei denn durch die zwingende Macht der Liebe, der Liebe, die sich freut, wenn sie das eigene Gute in dem eines andern findet, die bereit ist, alle persönlichen Neigungen oder Wünsche dafür hinzugeben, was am meisten der Vermehrung des Guten dient, was am ersten nach dem Himmelreich trachtet.

Lasse sich niemand, der sich getrieben fühlt, die zweite Meile zu gehen, durch irgend welchen Hinweis auf einen damit verbundenen Verlust davon abhalten! „Gebt, so wird euch gegeben”, sagte der Meister, „ein voll, gedrückt, gerüttelt und überflüssig Maß wird man in euren Schoß geben”. Es gibt nichts, das sich so reichlich lohnt wie die Erfüllung des Gesetzes der Liebe. Es gibt keinen sichereren Pfad zum wahren Glück, als die zweite Meile zu gehen, von der jeder Schritt ins Buch der Liebe eingeschrieben wird. Was tut es, wenn er zeitweilig vom irdischen Gewinn wegzuführen scheint, von dem Wege, den die Welt gutheißen und billigen würde? „Dieser Welt Weisheit ist Torheit bei Gott”, schrieb der Apostel Paulus; und wenn es etwas gibt, dessen wir vollkommen sicher sein können, so ist es das, daß die Welt keine Weisheit darin sieht, die zweite Meile zu gehen, und daß man nie finden wird, daß die Weltweisen sie gehen. Nichtsdestoweniger sammelt man sich auf diese Art gewiß Schätze im Himmel. Wir können glauben, daß wir die zweite Meile unbemerkt gegangen seien, daß wir sie ungesehen gemacht haben; aber früher oder später werden wir erfahren, daß es jemand bemerkt hat, und daß es Eindruck auf ihn gemacht hat, daß es die Aufmerksamkeit irgend eines Menschen auf sich gezogen hat, und daß er veranlaßt worden ist, zu fragen: „Welcher Antrieb steht hinter dem allem?”

Auf so viele Arten, zu Hause, im Laden, im Geschäft, wohin auch immer unser täglicher Weg führen mag, können wir die zweite Meile gehen. Was zugunsten der Christlichen Wissenschaft auf die Familie eines zwanzigjährigen Jünglings zuerst Eindruck machte, war die Tatsache, daß er ungeheißen anfing, Kleinigkeiten im Hause zu erledigen, die zur allgemeinen Bequemlichkeit und Behaglichkeit beitrugen, was nie der Fall war, ehe er sich mit der Christlichen Wissenschaft befaßte. Ruhig und bescheiden ging er die zweite Meile. Ein junges Mädchen in einem Versicherungsgeschäft, das in einer christlich-wissenschaftlichen Familie aufgewachsen war, zeichnete sich sofort nach ihrem Eintritt in die Geschäftswelt durch die natürliche Anmut aus, womit sie anderen Menschen Liebesdienste erwies. Die zweite Meile war ihr zur zweiten Natur geworden.

Die zweite Meile predigt das Evangelium vom Reich, und sie predigt es, wie Worte allein es nie tun könnten; denn sie ist die bewiesene Liebe. Diejenigen, die nur das tun, was von ihnen verlangt wird, mag ihre Arbeit auch noch so vortrefflich ausgeführt sein, wissen nichts von der Freude der Liebe. Die Welt legt ihr Handwerkszeug sozusagen mit dem Glockenschlag nieder, sie arbeitet nur, wofür sie bezahlt wird, und sonst nichts. Sie unterscheidet zwischen Arbeiten und Dienen; aber solange Arbeiten nicht Dienen wird und Dienen die Wirkung der Liebe ist, bleibt es mehr oder weniger nur mühsame Arbeit. Der wahre Geist des Dienens wägt niemals eine Frage gegen den Eigennutz ab.

Abgesehen von der Lehre und dem Beispiel des Meisters ist der Geist der zweiten Meile sicher nie so vollkommen gezeigt worden, wie in dem Aufsatz „Liebet eure Feinde” in „Miscellaneous Writings” von Mary Baker Eddy. „Ich glaubte auch”, schreibt Mrs. Eddy auf Seite 11 dieses Buchs, „wenn ich bedürftige Schüler kostenlos unterrichtete und sie nachher mit Geld unterstützte, wenn ich nach Schluß des Klassenunterrichts nicht nachließe, die Eigensinnigen zu lehren, sondern ihnen mit Vorschrift auf Vorschrift folgte, wenn meine Belehrungen sie geheilt und ihnen den sicheren Weg der Erlösung gezeigt hätten,— dann hätte ich meine ganze Pflicht gegen Schüler erfüllt”. Und dann fügt sie folgende tiefgründige Feststellung hinzu: „Die Liebe mißt nicht menschliche Gerechtigkeit sondern göttliche Gnade aus”. Die menschliche Gerechtigkeit kann einem einflüstern, daß die Meile, zu der man genötigt wird, vollauf genüge. Die göttliche Barmherzigkeit drängt: „Gehe mit ihm zwei”.

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