Mit außergewöhnlichem Einblick in die Angelegenheiten der ersten Nachfolger des Meisters bespricht Paulus in seinem Briefe an die Kirche in Galatien viele Fragen, die an sie wie an alle anderen Christen damals herantraten. Als Ermahnung zur Heiligkeit und Reinheit, zur brüderlichen Liebe und Selbstvergessenheit richtete er folgende Worte an sie: „Als wir denn nun Zeit haben, so lasset uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen”. Wer sind diese Glaubensgenossen? Was machte sie zu einer solchen Genossenschaft oder Gemeinschaft? Und was veranlaßte den großen Apostel, sich im Hinblick auf sie so auszudrücken? Das sind Fragen, die sich naturgemäß für jeden nachdenkenden Bibelforscher erheben.
„Gutes tun an jedermann”, das Banner, um das Paulus seine Nachfolger sammelte, stimmt offensichtlich mit den Lehren des Meisters überein. Denn in der Bergpredigt erklärte sich Jesus ohne allen Vorbehalt dagegen, daß man Feindschaft hege gegen irgend jemand, selbst gegen solche, die man seine Feinde nennen könnte. In seinem Briefe bittet Paulus die Christen in Galatien, an jedermann Gutes zu tun, d.h. gegen niemand Feindschaft zu hegen, und besonders darauf bedacht zu sein, an „des Glaubens Genossen” Gutes zu tun. Wer waren diese? Unbestreitbar war es die kleine Schar, die, nachdem sie das herrliche Licht des Christus, der Wahrheit, entweder von dem Nazarener selber oder von einem seiner erleuchteten Jünger empfangen hatte, sich sowohl zu ihrem eigenen Wohl als auch zur wirksameren Ausbreitung des Christentums zusammenschloß. Das Band, das sie zu einer Gemeinschaft heiligen Glaubens vereinte, war ihr gemeinsames Verständnis der geistigen Wahrheit, die Christus Jesus so wirkungsvoll verkündigt und bewiesen hatte. Das unauslöschliche Licht vollkommenen Seins hatte auf sie geschienen, und sie standen vor der Welt, erleuchtet durch einen Strahlenglanz, den nur sie kannten, einen Strahlenglanz, der von denen gänzlich unerkannt blieb, die zu weltlich gesinnt waren, seine heilenden Strahlen zu empfangen. In der Hauptsache ermahnte also Paulus jene geistig erleuchteten Menschen, einander Gutes zu tun,— im Geiste wahrer Gemeinschaft zu leben, als Christen der Welt ein Beispiel zu geben im Befolgen der köstlichen Gebote, deren Ausbreitung er sich selber so eifrig widmete.
Der Ruf der Botschaft des Apostels, in christlicher Gemeinschaft zu leben, ergeht übrigens an alle, die den Namen Christi nennen. Besonders die Christlichen Wissenschafter sollte die Botschaft erreichen; denn durch die läuternde Gegenwart des Christus haben sie Gott, den wirklichen Menschen als das Ebenbild Gottes und alle Menschen als die Kinder Gottes, die vollkommene Gemeinschaft des Glaubens, in der nur Liebe wohnt, in gewissem Maße verstehen gelernt.
Wie sehr sind wir, die wir diesen Läuterungsund Erneuerungsvorgang bis zu einem gewissen Grade an uns erfahren haben, dann verpflichtet, einander Gutes zu tun! In wahrer christlicher Gemeinschaft leben bedeutet sehr viel, aber nicht mehr, als wir beweisen können, wenn wir uns die Aufgabe stellen. Es ist sogar unerläßlich für uns, wenn wir unsere Pflichten gegen Gott und unsere geliebte Führerin erfüllen wollen. In einer Ermahnung im Kirchenhandbuch hat Mrs. Eddy die zwingende Notwendigkeit, Gemeinsinn und Wohlwollen unter „des Glaubens Genossen” zu beweisen, klar dargelegt. Im Abschnitt 3 des Artikels XI des Handbuchs lesen wir unter der Überschrift „Verletzung der christlichen Gemeinschaft”: „Ein Mitglied, ... das mit Mitgliedern von bewährtem Ruf nicht in christlichem Einvernehmen lebt, soll entweder aus der Kirche austreten, oder es soll aus der Kirchengemeinschaft ausgeschlossen werden”.
Die hier für die Vernachlässigung harmonischen Zusammenlebens mit unseren Mitarbeitern festgesetzte Strafe erscheint auf den ersten Blick wohl hart, ja unnachsichtig. Prüft man aber die Sache in ihrer vollen Bedeutung, so sieht man ein, daß die Satzung etwas Unumgängliches darlegt. Was könnte überhaupt der Kirche oder dem einzelnen Gutes daraus erwachsen, daß eine Beziehung bestehen bliebe, die ihre Grundlage nicht in der Wahrheit hätte? „Des Glaubens Genossen” sind diejenigen, die in brüderlicher Liebe, in christlicher Einheit und Gemeinschaft zusammenleben; denn sie haben den gemeinsamen Zweck, der Welt ein Beispiel des verchristlichten Lebens zu geben. Ist jemand hiervon nicht durchdrungen, so verfolgt er gewiß nicht den Zweck, der die Mitglieder einer Zweigkirche als „des Glaubens Genossen” zusammenhält! Und ohne diesen gemeinsamen Zweck und diese gemeinsame Erfahrung gibt es kein Band, keinen unerläßlichen Antrieb, der vereinigt und zusammenbindet. Wo persönlicher Ehrgeiz, Eigenwille, Feindseligkeit sich behaupten, hat christliche Gemeinschaft keine Wohnstätte: sie ist eine Ausgestoßene. Und wer sich diesem übelwollenden Einfluß unterworfen hat, hat in Wirklichkeit sich selber ausgeschlossen. Entweder hat er jene Einheit des Denkens, durch die man zu „des Glaubens Genossen” gehört, nie erlebt, oder er hat, wenn er damit gesegnet war, den Himmel seines Bewußtseins durch die Wolken des persönlichen Sinnes verfinstern lassen, die die Winde der Selbstsucht immer über unsern Blick treiben möchten.
In christlicher Gemeinschaft leben bedeutet viel, und doch ist ohne den Bewußtseinszustand, der dadurch zum Ausdruck kommt, kein geistiges Wachstum möglich. Vergessen wir nicht, daß unsere menschlichen Beziehungen das unmittelbare Ergebnis unserer Begriffe von Gott und dem Menschen sind! Wenn wir an falschen Annahmen über Gott festhalten, wenn wir den wirklichen Menschen falsch auffassen und glauben, er sei körperlich, sinnlich, selbstsüchtig, gehören wir nicht zu der christlichen Gemeinschaft, noch können wir dazu gehören, solange unsere Begriffe nicht berichtigt sind, und wir den Menschen nicht so, wie er ist, als Gottes geliebten Sohn, sehen. Wenn Mitglieder von Zweigkirchen Feindseligkeit und Mißtrauen, Eifersucht und Zwietracht im Bewußtsein wohnen lassen, schließen sie sich, mindestens vorübergehend, von der seligen Gemeinschaft aus, die, von wahrer Brüderlichkeit beseelt, unter „des Glaubens Genossen” wohnt. Wenn aber die geistige Erkenntnis erlangt wird und Liebe den Haß verdrängt, werden wir mit allen unseren Mitmenschen in Frieden und Freundschaft, in wahrer Brüderlichkeit leben. Dann werden viele Fragen gelöst werden, die jetzt die Christlichen Wissenschafter zu entzweien scheinen.
