Im 4. Kapitel der Offenbarung lesen wir, daß im Himmel eine Tür aufgetan wurde, und daß Johannes alsobald im Geist war. Zeitalter hindurch blieb diese Himmelstür unbeachtet, verborgen durch die Finsternis des sterblichen Sinnes, und wurde nur als Redensart gebraucht. Aber durch die Christliche Wissenschaft lernen wir endlich verstehen, erstens, daß es eine solche Tür tatsächlich gibt; zweitens, daß sie uns allen hier und jetzt offen steht; und drittens, daß es die einzige Tür ist, durch die man sich der Dinge, die bestehen, bewußt werden kann, die einzige Tür, durch die man in das Reich des Wirklichen eingehen kann. Mrs. Eddy schreibt (The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany, S. 188): „Durch den geistigen Sinn und nicht durch die körperlichen Sinne werden dem Menschen alle Eindrücke übermittelt”. Dies ist eine überraschende Behauptung. Bisher hatte die Tür der fünf körperlichen Sinne als einzige Pforte gegolten, durch die wir uns der Tatsachen und der Wirklichkeit der Welt bewußt werden können, und man kann es zuerst nicht glauben, daß in der Welt, die diese Sinne uns zeigen, so wenig Wirklichkeit sein soll wie in der Welt unserer Nachtträume oder in dem Märchenland, worüber wir in unserer Kinderzeit Erzählungen lasen.
Jeder Neuling in der Christlichen Wissenschaft hat durch diese Tür schon einen Blick in den Himmel getan; ein Strahl der Gesundheit und der Freudigkeit ist durch den Nebel des fleischlichen Sinnes zu ihm hindurchgedrungen. Dieses Erlebnis erweckt in ihm das Verlangen, noch mehr zu sehen, volle Freiheit zu erlangen von den Schmerzen, den Störungen und Enttäuschungen, die sich im Zwielicht drängen und ihm den Weg versperren; aber manchmal scheint der Fortschritt langsam. Dadurch wird der Schüler gezwungen, tiefer einzudringen; er sucht noch mehr Belehrung und liest noch einmal die wohlbekannten Stellen in der Bergpredigt. Dort findet er die Erklärung, daß diejenigen, die reines Herzens sind, Gott schauen werden, und er fängt an, darüber nachzudenken. Da er in seinem Leben dem Sittengesetz der Welt vielleicht genau nachgekommen ist, hat er diesen Worten wenig Beachtung geschenkt. Er dachte wohl, das darin enthaltene Gebot verlange von ihm keine besondere Anstrengung. Doch jetzt fragt er sich: Zeigt diese körperliche Schwäche oder Unfähigkeit, von der ich nicht frei werden kann, nicht, daß ich die Grundtatsache, daß Gott das unendliche Leben und der einzige Gesetzgeber ist, gar nicht recht erfaßt habe? Ist die mich bedrückende Armut nicht die Folge von Mangel an dem rechten Verständnis, daß Gott die unendliche Liebe, unser Vater-Mutter Gott, der Geber alles Guten ist? Muß ich nicht, um von Gott mehr zu sehen, vielleicht mehr Reinheit erlangen?
Sobald dem Schüler solche Gedanken zum Bewußtsein kommen, fängt er an, über Reinheit nachzudenken; er forscht in der Bibel und in den Schriften der Mrs. Eddy, um zu verstehen, was Reinheit eigentlich ist; und dabei entfaltet, erweitert und erschließt sich seinem Blick die Bedeutung des Wortes.
Er findet festgestellt, daß nur das Unsterbliche, nur das Bleibende und Unwandelbare rein ist; daß Reinheit ein anderer Name für wahre Liebe ist, und daß sie daher göttliche Kraft ist; daß der einzig wahre Friede, die einzig wahre Glückseligkeit ohne Reinheit undenkbar ist. Die Welt der körperlichen Sinne ist vergänglich, sterblich. In ihr ist alles stets dem Wechsel und dem Zufall unterworfen; daher kann sie dieser Probe gemäß nicht rein sein. Dennoch birgt sie, wie ihm scheint, viel Liebenswertes und eine ungeheure Tatkraft in sich. So sieht er die Unreinheit der Welt nur teilweise. Allmählich wird ihm jedoch die Wahrheit klarer, daß trotz des Stoffs die dem menschlichen Bewußtsein aufdämmernde geistige Wirklichkeit aller Dinge das wahrhaft Liebenswerte, Edle und Schöne ist. „Seine [Gottes] mannigfaltige Weisheit scheint”, wie Mrs. Eddy es so schön beschreibt (Miscellaneous Writings, S. 363), „in Lichtstrahlen der ewigen Wahrheiten durch die sichtbare Welt. Sogar durch den Nebel der Sterblichkeit hindurch sieht man den Glanz Seiner Zukunft”.
Der Stoff bringt Gott, den Geist, und die geistige Schöpfung nicht zum Ausdruck; er verdunkelt sie. Wir können nicht den neuen Himmel und die neue Erde und auch den alten Himmel und die alte Erde haben. Das Alte verbirgt unserem Blick das Neue.
Wenn diese Tatsachen klarer werden, beginnt der Schüler vernunftgemäß das Unwirkliche und Verwerfliche der Welt der körperlichen Sinne zu sehen. Er nimmt, wenn auch noch unklar, wahr, daß eine weltliche Lebensanschauung bloßer Aberglaube ist, daß das Sterbliche nur ein Gespensterglaube an eine in Trugvorstellungen sich bewegende, begrenzte persönliche Intelligenz ist. Wenn er aber versucht, seine Erkenntnis im täglichen Leben anzuwenden, findet er, daß es ihm nur Schritt für Schritt gelingt. Manche Menschen behalten alte Kränkungen in der Erinnerung, bleiben mißgestimmt gegen Personen oder Umstände, während andere mit leidenschaftlicher Zuneigung an einer Person oder einem Orte hängen. So sind sie Knechte einer falschen Auffassung der Dinge, und solange sie diese begrenzenden Irrtümer nicht überwunden haben, können sie nicht durch die Tür des Himmels in das unbegrenzbare Reich des Gemüts eingehen.
In „Retrospection and Introspection” (S. 67) lesen wir: „Die erste verletzende Kundgebung der Sünde war eine Endlichkeit”. Jeder Glaube an das Endliche ist also Unreinheit. Gott ist unendlich; daher muß alles, was wirklich, was von Gott geschaffen ist, an dem Wesen der Unendlichkeit teilhaben. Gott ist immer gegenwärtig; daher sind alle Seine Ideen immer gegenwärtig. Wenn etwas wirklich besteht, muß es auch immer gegenwärtig sein und kann nicht verloren gehen; aber alle sterblichen Annahmen, alle körperlichen Gegenstände sind, wie wir wissen, räumlich und zeitlich begrenzt, sind dem Wechsel, dem Zufall, dem Verfall unterworfen. Unser Meister ermahnte uns, wir sollen uns „Schätze im Himmel” sammeln, „da sie weder Motten noch Rost fressen und da die Diebe nicht nachgraben noch stehlen”. Auf diese Art löste er uns sanft vom Begrenzten, Weltlichen und Endlichen und wies uns nach der offenen Tür, die in das liebliche Land des Geistes führt, wo wir die Wirklichkeit der ganzen Schöpfung vom Geringsten bis zum Größten geborgen, im Schoße Gottes immerdar geborgen finden.
„Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen”.