Jesus suchte einst den Sterblichen die Tatsache der Allgegenwart des Gemüts und seiner Fähigkeit, „selig [zu] machen immerdar”, zu erklären, und zu diesem Zweck erzählte er ihnen eine einfache Geschichte menschlichen Irrens und Verkommens, menschlicher Reue und Besserung. Sündig, krank, heimatlos, einsam, hörte der verlorene Sohn die Mahnung des Guten, die einen höheren Sinn in ihm erweckte, worauf er sagte: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen”. Diesem wahren Antriebe gehorchend, machte er sich auf und ging ohne Umschweife dem Vaterhause zu in der Absicht, dort um Aufnahme zu bitten, nicht als Sohn, sondern als Knecht. Und es heißt weiter in der Erzählung, daß er „zu seinem Vater kam”.
Jedem Menschenherzen wohnt etwas inne, was wir gemeinhin Gewissen nennen, eine Neigung zum Guten, ein Drang, ein besseres Leben zu führen, recht zu tun. Dann und wann haben wir den Vorsatz gefaßt, diesem göttlichen Antriebe zu folgen, haben uns vorgenommen, uns zu bessern — ein neues Leben zu beginnen, wie man sagt; und wir haben uns vielleicht auch bemüht, es zu tun. Doch bald hat uns die verwirrende Bestrickung falschen Begehrens, ungezügelter Leidenschaften, nachsichtig geduldeter Begierden vom rechten Ziele abgelenkt, und über kurz oder lang fallen wir wieder in das alte Denken und Handeln zurück: wir verlassen den geraden Weg zum Vaterhause. Entmutigung und Verzweiflung scheinen die Stimme des Gewissens zum Schweigen zu bringen. Hierin ist der Jüngling im Gleichnis zu loben; denn nachdem er sich von seinem irrigen Wege abgewandt hatte, strengte er sich weiter an, sich zu bessern, und kehrte in die Heimat zurück. Und was für ein Empfang ihm bereitet wurde! Mehr als er erbat oder sich dachte, wurde ihm zuteil.
Durch bedachtsames Lesen der einfachen Erzählung erkennen wir, daß das, was tatsächlich vor sich ging, eine Sinnesänderung des verlorenen Sohnes war. Er hatte die Tiefen menschlichen Elends kennen gelernt; er hatte die Stimme des Guten vernommen, war zu dem Verlangen nach einem besseren Leben erwacht und hatte demütig und gehorsam sein Denken der heilenden Berührung der göttlichen Liebe, seines himmlischen Vaters, untergeordnet. Er machte sich auf und ging. Unaufhaltsam ging er, das Angesicht dem Vaterhause zugewandt. Er dachte nicht darüber nach, was sein Vater für ihn, den Sohn, tun solle. Er beschuldigte seinen Vater nicht, daß er sich nicht um ihn gekümmert habe, und daß er ihn habe in solches Elend geraten lassen. Beachten wir seine Demut, seine Reue! Hätte er darüber nachgegrübelt, was für Entschuldigungen er vorbringen könne, um seinen kläglichen Zustand zu rechtfertigen, so wäre er vielleicht vom geraden Weg abund nicht nach Hause — in das Bewußtsein der Liebe — gekommen; auch hätte er nicht den frohen Willkomm des Vaters gehört. Es ist auch hilfreich zu beachten, daß die Heimat, die Liebe ihn allezeit willkommen hießen, sogar als er sich für sündig und darbend hielt. Selbstbestrickung machte ihn blind gegen alles, was ihm von Rechts wegen zustand,— Heimat, Freunde, Glück.
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