Es kommt oft vor, daß Leute, wie man zu sagen pflegt, an ihrem Schatten erschrecken, weil sie ihn für etwas Greifbares halten, bis die Vernunft sie über den Irrtum aufklärt. Die Christliche Wissenschaft vollbringt die größere Aufgabe und führt die Menschen aus dem Schatten der Sinnenwelt heraus. Im Lichte des Geistes und der wahren Wesenheit wird es täglich klarer, daß der Stoff wesenlos ist, und in demselben Verhältnis verläßt man sich weniger auf das Stoffliche, und der Christliche Wissenschafter lernt immer mehr sich auf den Geist, die Quelle seiner Intelligenz, seines Wirkens, seiner Ausdauer, seiner Sehkraft und seines Gehörs verlassen. Von dem Christusvorbilde, dem Gegenteil des sterblichen Begriffs Mensch sprechend, erklärte Johannes der Täufer: „Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen”. Vor größerer Geistigkeit nimmt die Undurchsichtigkeit der Schatten der Furcht und der sterblichen Annahme ab, und das menschliche Bewußtsein wird ein besseres Durchlaßmittel für die Wahrheit.
Krankheit lauert als Schatten in weltlicher Furcht, in jener Furcht, die unsere Gesundheitsaussichten vom Standpunkte der Abstammung, der Körperbeschaffenheit, der Lebensweise, des Wetters, der Höhenlage usw. aus berechnet. Zugegeben, daß Krankheit der Schatten falschen Glaubens sei, wie ist dann der Körper zu heilen? Angenommen, man möchte den dunklen Schatten, den ein Tisch auf den Fußboden wirft, beseitigen, wie würde man dabei zu Werke gehen? Würde man den Fußboden scheuern oder abschaben? Hat der Fußboden den Schatten erzeugt? Ist er im Fußboden? Kann er durch Entfernung des Fußbodens beseitigt werden? Würde jemand den Schatten für hartnäckig oder unheilbar halten? Nein, denn jedermann weiß, daß mit der Beseitigung des Gegenstandes, der das Licht nicht auf den Fußboden fallen läßt, der Schatten zugleich spurlos verschwindet.
Das erbarmende Wirken der Christlichen Wissenschaft vernichtet den Glauben an den Stoff und an Arzneimittel, an Sünde, körperliche Vererbung, Armut und alle dunklen Vorahnungen. Was kann jeden Schatten der Furcht, der Sünde — aller Weltlichkeit — aus dem menschlichen Denken verbannen? Einzig und allein das Licht und die Macht der göttlichen Liebe, die Reinheit des Geistes. Wie einleuchtend es daher doch ist, daß jemand, der bei der Christlichen Wissenschaft Heilung sucht, unbedingt aufhören muß, sich beobachtend, ängstlich oder sonstwie erwartend um den körperlichen Leib zu kümmern! Kann man den Schatten auf dem Fußboden dadurch entfernen, daß man ihn auf sein Alter und seine Beschaffenheit untersucht? Solches Untersuchen des Schattens würde nicht nur nichts nützen sondern seine Beseitigung vielmehr dadurch verzögern, daß das Denken vom Beseitigen des schattenwerfenden Gegenstandes abgelenkt wird. Daher fordert die Christliche Wissenschaft jeden Leidenden auf, sein Leiden in erster Linie ehrlich als einen Bewußtseinszustand zu erkennen; denn „wir haben”, wie Paulus schreibt, „nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen”, und Fleisch und Blut sind der Wahrheit gegenüber ohnmächtig.
Die Wesenheit der Seele der Unwirklichkeit des Stoffs gegenüberstellend schreibt Mrs. Eddy in „Retrospection and Introspection” (S. 25): „Die körperlichen Sinne oder die sinnliche Natur nannte ich Irrtum und Schatten”. Und auf Seite 134 in „Miscellaneous Writings” sagt sie: „Der im ewigen Lichte wohnt, ist größer als der Schatten, und Er wird die Seinen behüten und führen”. „Die Seinen” sind diejenigen, die nach und nach auf die Macht des Geistes, der göttlichen Liebe, vertrauen lernen, nicht teilweise, nicht zeitweise, sondern ganz und allezeit. Mächtiger als die größten menschlichen Aufgaben ist ein Körnchen der Wahrheit; und ein Strahl der göttlichen Liebe kann den dichtesten Schatten der Furcht und des Hasses verdrängen. Denn „Gott ist Licht und in ihm ist keine Finsternis”. Daher fordert die Christliche Wissenschaft den Leidenden auf, nicht mehr angstvoll auf das Körperliche und das sogenannte Stoffgesetz zu achten, sondern seine Aufmerksamkeit dankbar, zuversichtlich und beharrlich auf den Geist und das geistige Gesetz gerichtet zu halten. Sie fordert ihn zu ungeteiltem geistigem Glauben auf.
Ebenso verhält es sich mit dem Heilen von Sünde, die nur der Schatten der Nachsicht gegen das fleischliche Ich ist. Die Sterblichen betrachten den körperlichen Leib, obgleich er tatsächlich empfindungslos ist, als den Träger schöpferischer Kraft, mannigfaltiger Empfindungen, des Erfindungsgeistes, der Beliebtheit und des Vollbringens. Der getäuschte Sinn unterwirft sich der Körperlichkeit und erklärt: Laßt uns essen, trinken und fröhlich sein; denn morgen sind wir tot! Kein Wunder, daß das Christentum den Sterblichen zu Hilfe kommt, indem es verkündigt: „Es werde Licht!” Mit göttlicher Berechtigung erklärt die geistige Erleuchtung, daß die Sterblichen aufhören müssen, im Weltlichen umherzutasten nach den Gaben wahrer Gesundheit, Freude und Harmonie, die rein geistig sind, und die man daher durch Weltlichkeit weder gewinnen noch verlieren kann.
„Der Schatten des Todes” ist die Folge des Glaubens, daß das Leben nicht unendlich sei; daß ein körperlicher Leib der Träger von Leben, Gesundheit, Intelligenz und Stärke sei, daß sie vom Körperbau abhängen und persönlich seien. Der sogenannte Tod ist nur der Höhepunkt dieser Annahmen. Man muß sich daher, um „den letzten Feind” zu überwinden, mit den ihm vorausgehenden und ihn begleitenden Umständen befassen. Dieses Überwinden des Todes durch Läuterung des Denkens und dadurch, daß man sich vom Geist anstatt vom Stoff abhängig macht, geht allmählich, täglich, vor sich, und man sollte es nicht vernachlässigen oder ihm ausweichen. Der tapfere Apostel Paulus, dem dies klar war, erklärte: „Ich sterbe täglich”. Wir entnehmen daraus, daß sein starker Glaube an Gott und sein Beweisen geistiger Kraft mit jedem Tage zunahmen. Christliche Wissenschafter sollten in ihrem Leben durch mehr Geistigkeit, durch weniger Dunkelheit, größere Klarheit und Lauterkeit des Denkens, durch bestimmteres Beweisen von Güte und Gesundheit jeden Tag ein Abnehmen der Weltlichkeit verzeichnen können. In dem Maße, wie das Verlangen der Sterblichen erweckt, geläutert und emporgehoben wird, werden zu ihrer Zeit die Schatten der Krankheit und der Sünde dem einströmenden Lichte der Wahrheit weichen.
Durch den Schatten wird in der Bibel auch der geistige Schutz versinnbildlicht, der jedem einzelnen in dem Maße zuteil wird, wie er im Göttlichen bleiben lernt. Der Psalmist erklärt: „Unter dem Schatten deiner Flügel habe ich Zuflucht, bis daß das Unglück vorübergehe”. Unermüdlich stets wahr denken und in reichem Maße die göttliche Liebe widerspiegeln bringt sicher Befreiung von dem Unglück, das die Sterblichen auf ihrem Wege bedrängt. In diesem Sinne schreibt Mrs. Eddy in „The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany” (S. 210): „Der Rechtdenkende bleibt unter dem Schatten des Allmächtigen. Seine Gedanken können nur Frieden, den Menschen ein Wohlgefallen, Gesundheit und Heiligkeit widerspiegeln”. Wenn wir unerschütterlich in diesem Schatten der Heiligkeit des Geistes bleiben, muß schließlich alles Weltliche der geistigen Widerspiegelung der ewigen, wesenhaften Vollkommenheit des Schöpfers weichen, wie es in dem Kirchenliede heißt:
„So soll es sein im Glanze jenes Morgens,
Wenn Gottes Näh’ heißt jeden Schatten flieh’n”.
