Im ganzen Alten Testament sind wohl nirgends die Forderungen wahrer Anbetung bestimmter und ansprechender dargelegt als in den Worten des Propheten Micha. „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist”, erklärt Micha als Vorbemerkung zu seiner unvergleichlichen Äußerung, und er fährt fort mit der zwingenden Frage: „Und was fordert der Herr anderes von dir als gerecht zu sein und Barmherzigkeit zu üben und demütig zu wandeln mit deinem Gott?” (engl. Bibel). Wie bündig dieser Prophet des Altertums seinen Landsleuten nach eingehender Erforschung der Gesinnung Israels das wahre Wesen der Anbetung darlegte! Micha sprach für das Landvolk, für die Armen und Unterdrückten. Und wie er die Israeliten der Pflichtvernachlässigung, besonders der Abgötterei, der Unterdrückung der Niedrigen und des Götzendienstes beschuldigte, war furchtbar. Aber er sah das Kommen des Christus voraus, der Gerechtigkeit und wahre Anbetung aufrichten sollte; und in seiner zwingenden Frage brachte er den Geist der Botschaft des Heilandes zum Ausdruck.
So bedeutsam sind diese Worte Michas, daß es sich lohnt, die darin enthaltene große Lehre näher ins Auge zu fassen. Die Frage bedarf keiner Beantwortung, die Antwort ist gegeben. Gerecht sein, barmherzig sein und demütig mit Gott wandeln erfüllt die göttlichen Forderungen. „Gerecht sein” heißt alle Menschen mit Gerechtigkeit, ohne Bevorzugung, ohne Vorurteil, und in jeder Hinsicht unparteiisch behandeln. Nur dies erfüllt die göttliche Forderung. Wie genau doch dieser Gedanke mit dem ersten Satze des Abschnitts „Eine Richtschnur für Beweggründe und Handlungen” (Kirchenhandbuch, S. 40) übereinstimmt: „Weder Feindseligkeit noch rein persönliche Zuneigung sollte der Antrieb zu den Beweggründen oder Handlungen der Mitglieder Der Mutter-Kirche sein”! Mrs. Eddy zog hiermit eine Richtschnur für das persönliche Verhalten der Mitglieder Der Mutter-Kirche, die zum mindesten in einem Punkte mit den Ansichten des Propheten über die Forderung wahrer Anbetung übereinstimmt.
„Barmherzigkeit üben”, nicht bloß barmherzig sein, sondern mit Liebe Barmherzigkeit üben, meinte der Prophet. Christus Jesus legte einen ähnlichen Gedanken in die köstliche Seligpreisung: „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen”. Sicher hat jeder Sterbliche, der seine eigenen Mängel doch kennen muß, das Verlangen nach Barmherzigkeit und Vergebung. Während man sich bewußt sein kann, daß man unrecht tut, wünscht man doch, daß es einem vergeben werde, und, wenn man in seinem Denken ehrlich ist, daß man besser werde. Ein sündhaftes Leben führen ist nicht das vorherrschende Verlangen der Menschen. Barmherzig sein, vergeben, wissen, daß der wirkliche Mensch nie etwas anderes als das Gute weiß oder tut, fördert die Barmherzigkeit, erweckt sogar die Liebe zu ihr. Wie ganz diese Bedingung des Hirtenpropheten doch von dem Christusgeiste durchdrungen war!
„Demütig wandeln mit deinem Gott”! In diesem Ausdruck faßt Micha seinen Begriff wahrer Anbetung zusammen; er bildet eine vollkommene Richtschnur für rechtschaffenes Leben. Mit Gott wandeln heißt sein Denken und Handeln in allem dem Göttlichen anpassen, die göttlichen Eigenschaften zum Ausdruck bringen und alles ausmerzen, was von diesem Maßstabe abweicht. Wir wandeln demütig mit Gott, wenn wir Ihn als die Quelle alles Daseins erkennen, als das unendliche Sein, von dem alles ausgeht, was das Leben zum Ausdruck bringt. Und indem wir dies erkennen, werden wir gewahr, daß wir nichts von uns selber tun können.
Was für ein ansprechendes Beispiel wahrer Demut Christus Jesus der Welt gab! Er, der mächtiger und fähiger war als irgend jemand, der je auf Erden lebte, leugnete alles persönliche Können und Vollbringen. „Der Vater ... tut die Werke”, und: „Der Sohn kann nichts von sich selber tun” sind die erhabenen Erklärungen dieses demütigsten Menschen. Die von Micha Jahrhunderte früher dargelegten Bedingungen wahren Anbetens gingen im Leben des Nazareners vollständig in Erfüllung. Vollkommen gerecht gegen alle Menschen, barmherzig und als höchsten Beweis des Wirkens der Liebe Barmherzigkeit liebend, demütig bis zu dem Grade, daß er alle persönliche Fähigkeit in Abrede stellte — verkörperte und betätigte der Nazarener den Kernpunkt wahren Anbetens: er erfüllte dessen Bedingungen vollständig und vollkommen. Unausgesetzt wandelte Jesus mit Gott; und weil er sich der göttlichen Gegenwart beständig bewußt war, wurde er der Wegweiser und der Erlöser der Menschen.
Micha sah das Kommen des Christusvorbildes voraus, und in diesem Kommen erblickte er die Erfüllung seiner erhabenen Vorstellung von Anbetung. Ebenso stellt die Christliche Wissenschaft vor der Welt den Maßstab des Lebens und der Anbetung auf, den Micha nach dem Bibelbericht zuerst aufstellte, und den Christus Jesus vorlebte. Die Offenbarung der Mrs. Eddy macht allen, die sich näher damit befassen, das Beweisen der Eigenschaften wahrer Anbetung zur unumgänglichen Pflicht. Mit Gott wandeln, das Denken dem göttlichen Vorbild anpassen, beständig in der Erkenntnis der göttlichen Gegenwart leben, in den Verwicklungen des Lebens demütig und gerecht bleiben, bei allem Handeln die göttliche Führung suchen — das sind die Forderungen, die die Christliche Wissenschaft an ihre Nachfolger stellt. Diese Forderungen bringen jedoch den größten Segen mit sich: das Vorrecht, in der unaussprechlichen Freude geistiger Harmonie zu bleiben. Mrs. Eddy zeigt, wie man mit Gott wandelt, mit den Worten (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 192): „Wir wandeln in den Fußtapfen der Wahrheit und Liebe, wenn wir dem Beispiel unsres Meisters in dem Verständnis der göttlichen Metaphysik nachfolgen”. Und sie schließt den Abschnitt mit den bedeutsamen Worten: „Alles, was den menschlichen Gedanken auf gleicher Linie mit selbstloser Liebe erhält, empfängt unmittelbar die göttliche Kraft”. „Unmittelbar die göttliche Kraft” empfangen — der Lohn für den Gehorsam gegen Michas Auslegung der Forderungen Gottes könnte kaum ansprechender dargelegt werden.
