In seinem 1. Briefe an die Thessalonicher ermahnt Paulus: „Betet ohne Unterlaß”. Gehorsam gegen dieses Gebot würde die Menschen, wenn sie es unter einer falschen Auffassung von Gebet betrachteten, in Verlegenheit bringen; aber es ist wie alle Gebote, die durch die geistig Gesinnten kommen, keine unvernünftige Forderung. Mrs. Eddy macht es sehr praktisch und einfach, wenn sie in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 4) schreibt: „Das beständige Streben, immer gut zu sein, ist Beten ohne Unterlaß. Die Beweggründe zu solchem Beten werden in den Segnungen offenbar, die sie bringen — Segnungen, die bezeugen, daß wir würdig sind, an der Liebe teilzuhaben, selbst wenn sie nicht mit hörbaren Worten anerkannt werden”.
Wie alles, was unsere Führerin geschrieben hat, übermittelt auch diese Stelle bei sorgfältiger Zergliederung eine große geistige Wahrheit; denn sie sagt uns klar, daß das, was wir bei Erhörung wahren Betens empfangen sollen, ein besseres Verständnis der göttlichen Liebe ist. Hier sagt vielleicht jemand: Gerade danach verlangt es mich vor allem andern — mehr geliebt zu werden, mehr von denen geschätzt zu werden, mit denen ich zu tun habe. Ist dies aber unser einziges Verlangen, dann bitten wir übel; denn „wahrhaft beten heißt”, wie unsere Führerin auf Seite 39 in „Nein und Ja” sehr überzeugend schreibt, „nicht Gott um Liebe bitten; es heißt lieben lernen und alle Menschen in eine Liebe einschließen. Durch das Gebet machen wir uns die Liebe zunutze, mit der Er uns liebt”. Hiernach müssen wir heute anfangen, nicht zu bitten, daß wir geliebt werden, sondern daß wir Liebe bekunden mögen. Denn wenn wir dies tun, drücken wir das Wesen Gottes aus und bestätigen dadurch, daß wir würdig sind, an den göttlichen Segnungen teilzunehmen.
Allzulang hat die Welt die Bedeutung des Wortes „Gebet” falsch verstanden, und es ist kaum zu verwundern, daß der Glaube an seine Wirksamkeit durch eine verkehrte Auffassung, wie es zur Befriedigung der Bedürfnisse des Menschengeschlechts anzuwenden sei, fast verlorengegangen ist. Doch jetzt können wir alle durch den erleuchteten Inhalt des Lehrbuchs Wissenschaft und Gesundheit und der anderen Schriften unserer Führerin recht beten lernen.
Wie sollen wir die Liebe Gottes nutzbar machen? Das ist die Frage, die die Sterblichen bewegt; denn für den weltlichen Sinn bedeutet sie Opfer bringen, das Kreuz auf sich nehmen, falsche Ideale, Annahmen und Gewohnheiten aufgeben. Wenige sind ihrer, die, nachdem sie den Weg entdeckt haben, bereit sind, darauf zu wandeln; doch alle müssen einmal in dieses Reich der Liebe und der Harmonie eingehen. Und das Nutzbarmachen der Liebe, die Gott uns verliehen hat, enthüllt das ewige Prinzip oder das ewige Gemüt, das durch vollkommenes und harmonisches Gesetz die unermeßliche Schöpfung Gottes, den Menschen und das Weltall, regiert.
Als Mrs. Eddy von ihrem Lebenswerk schrieb, von der Gründung der großen Glaubensbewegung, die das ursprüngliche Christentum in der ganzen Welt wiedereinsetzt, erklärte sie: „Das Wenige, das ich vollbracht habe, ist alles durch Liebe — selbstvergessende, geduldige, unbeirrte Zärtlichkeit — geschehen” (The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany, S. 247). Könnte klarer ausgedrückt werden, daß der Antrieb, der uns diese Offenbarung der Wahrheit brachte und die Lehren Jesu anwendbar machte, Liebe war? Wenn also die Liebe unsere Führerin befähigte, diese Entdeckung zu machen und die christlich-wissenschaftliche Bewegung mit allen ihren mannigfaltigen Tätigkeiten ins Leben zu rufen, so wird ihr beständiges Wachsen und Gedeihen einzig und allein dadurch gewährleistet, daß wir die „Liebe, damit er uns geliebt hat”, widerspiegeln.
Wenn wir uns mit den in der oben angeführten Erklärung der Mrs. Eddy dargelegten Eigenschaften näher befassen, erkennen wir, daß Schüler der Christlichen Wissenschaft nicht nur das Verlangen haben sondern auch bestrebt sein sollen, jene Merkmale der Liebe zu pflegen, die so notwendig sind, wenn die Welt von Sünde, Krankheit, Leid, Armut — von allem Bösen — geheilt und der allgemeine Glaube an den Tod überwunden werden soll. Vernachlässigen wir also nicht unsere Pflicht, lassen wir die tückischen Irrtumseinflüsterungen uns nicht hindern, diese Merkmale zu erlangen!
Für den sterblichen Sinn dürfte es nicht leicht sein, das Selbst zu vergessen; doch gerade dies wird von uns gefordert. Denn Jesus sagte: „Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir”. Sich selbst verleugnen bedingt das Aufgeben jedes Glaubens an eine persönliche, fleischliche Selbstheit mit ihren falschen Wünschen, Leidenschaften und Begierden einschließlich der Liebe zu weltlichen Besitztümern, wonach die Sterblichen so sehr zu verlangen scheinen. Johannes erklärt: „Des Fleisches Lust und der Augen Lust und hoffärtiges Leben ist nicht vom Vater, sondern von der Welt”.
Wenn wir den falschen Sinn vom Selbst leugnen und das Kreuz auf uns nehmen, übernehmen wir die Verantwortung, wahre Christliche Wissenschafter zu sein, und sind bereit und willig, selbstlos für Gott zu arbeiten, gleichviel welche Anfechtungen an uns herantreten mögen. Und obgleich wir als Folge vieler weltlicher Verluste falscher Freuden zu leiden scheinen, sind wir reich belohnt mit geistigem Gewinn, mit der Freude selbstlosen Liebens und mit der Befriedigung, die wir erlangen, wenn wir unsere Liebesmühe zur Erntezeit reichlich Frucht tragen sehen.
Was könnte im Leben eines Christlichen Wissenschafters, sei es zu Hause, in der Kirche, in der christlich-wissenschaftlichen Ausübung oder bei den täglichen Aufgaben, ohne Geduld vollbracht werden? Daß wir Geduld üben müssen, tritt fast stündlich an uns alle heran. Geduld ist für unser Wachstum unerläßlich, und sie darf nie fehlen, wenn wir unserem Bruder helfen sollen, die wahre Vorstellung von Gott zu erlangen, die ihn von seinen scheinbaren Widerwärtigkeiten heilen soll. Befürchtungen, Mühseligkeiten, Zweifel und Entmutigung müssen aufhören, damit Heilung stattfinden kann; und große Geduld kann erforderlich werden, um das Denken über die öde und scheinbar hoffnungslose Lage, die man auf dem Wege durch die Wüste ins gelobte Land antreffen kann, hinwegzuführen.
Wer hat sich nicht schon in Lagen befunden, wo nur unbeirrtes, standhaftes, unerschütterliches Vertrauen auf Gott und die liebevollen und überzeugenden Botschaften der Wahrheit und Liebe übermäßige Befürchtungen niederzwingen konnten? Alle Beweisgründe des Buchstabens der Christlichen Wissenschaft sind nichts als „tönend Erz” ohne die unbeirrte Zärtlichkeit und die reine christliche Barmherzigkeit, die die Worte der Wahrheit stets begleiten müssen, damit der Geist Christi, der Wahrheit, die Trugvorstellungen des fleischlichen Gemüts, jene Diebe des weltlichen Sinnes, die uns unser Geburtsrecht rauben und uns verwundet und blutend am Wege liegen lassen möchten, vernichten kann.
Es ist kein Wunder, daß die Welt so wenig Gewinn vom Beten gehabt hat, wenn das Beten so wenig verstanden worden ist. Denn das Beten ist eher als ein Bitten denn als ein Geben angesehen worden. Es ist wahr, daß Jesus sagte: „Bittet, so wird euch gegeben”; aber er meinte nicht, daß wir um weltlichen Gewinn bitten sollen, sondern um geistiges Verständnis, damit wir das göttliche Wesen völliger an den Tag legen könnten; und er fügte hinzu: „Alles, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten”.
Lehrt uns die Christliche Wissenschaft, daß wir lieben sollen? Nehmen wir durch unser Studium und Gebet mehr von dem Christus, der Wahrheit, in uns auf? Dann beten wir recht, und unser Gebet wird erhört; denn wahres Beten ist sowohl Verlangen als auch Erfüllen. Wir wissen, daß unser himmlischer Vater den Ruf Seiner Kinder hört; und wir treten unsere Erbschaft an; denn das Gesetz erfüllt sich in uns. Wir alle können unser Herz in Andacht zu Gott erheben und „ohne Unterlaß beten” und dadurch bestätigen, daß wir würdig sind, den Namen zu führen, der nach der Offenbarung des Johannes der Gemeinde zu Philadelphia, der Kirche der „brüderlichen Liebe”, gegeben werden sollte.
Diesen wahren Begriff von Gebet, den viele gefunden haben, hat Whittier in folgendem Verse in herrlicher Weise zum Ausdruck gebracht:
O Brudermensch, schließ in dein Herz den Bruder!
Wo Liebe wohnt, da thront der Friede Gottes.
Gott recht verehren heißt einander lieben,—
Jede Freundlichkeit ein Lied, jede Gefälligkeit ein Gebet.
Das Christentum hat nur eine rechtmäßige Waffe. ...— die Welt auf keine andere Art besiegen, als daß man sie liebt.—
